Auch nach 30 Jahren sind die Bilder von Gladbeck lebendig, die Narben nicht verheilt. Nicht bei den überlebenden Geiseln, nicht bei den Angehörigen der Opfer – aber auch nicht bei der Polizei. Gerade sie stand und steht am Pranger. Viele Beamte machen sich Vorwürfe, werden von Selbstzweifeln und Gewissensbissen geplagt. An den bohrenden Fragen hat sich nichts geändert.

30 Jahre nach Gladbeck sitzen vier verantwortliche Polizeiführer aus NRW erstmals wieder zusammen – in Köln, bei Kaffee und belegten Brötchen. Sie trugen für 48 der 54 Stunden des Polizeieinsatzes die Verantwortung:

  • Dieter Höhbusch, Spezialist für Geiselnahmen und Berater des inzwischen verstorbenen Gladbecker Einsatzleiters Friedhelm Meise,
  • Otto Pfannenschmidt, Einsatzleiter Verfolgung,
  • Winrich Granitzka, stellvertretender Einsatzleiter Köln und mitverantwortlich für den Befehl des Zugriffs,
  • Alfred Schürmann, SEK-Führer. Er leitete den Zugriff.

Sie alle sind inzwischen im Ruhestand, können offen reden. Unmittelbar nach den Geschehnissen mussten sie sich zum Teil, wie Schürmann, vor Gericht verantworten. Das Innenministerium in Düsseldorf schützte sie durch sehr eingeschränkte Aussagerechte. Jetzt stellen sie sich noch einmal den großen Fragen:

Warum bereitete die Polizei nicht schon in der Bank dem Spuk ein Ende?

Höhbusch: „Um in eine Bank mit gesicherten Scheiben hineinzukommen, kann man natürlich auf die Idee kommen, mit einem gepanzerten Fahrzeug dort hineinzufahren … Aber die Situation war so, dass die Täter immer in unmittelbarer oder relativ großer Nähe zu den Geiseln waren. Hätte man diese Variante gewählt, hätte man nicht schnell genug Kräfte in der Bank gehabt, um die Geiseln von den Tätern zu trennen … Das Problem einer Bank ist, dass eine Bank von ihrer ganzen Konstruktion her so gesichert ist, dass dort nicht eingebrochen werden kann. Und entsprechend stark sind natürlich die Fensterscheiben, entsprechend stark aber auch die Betonierungen im Gebäude selbst … Alle Lösungen sind verworfen worden, weil das Risiko für die Geiseln nicht kalkulierbar war …

Wenn ich zwei Täter habe, muss der finale Rettungsschuss gleichzeitig und präzise bei beiden Tätern eingesetzt werden. Das war nicht der Fall. Und die besondere Problematik bestand auch darin, dass man zwar die Täter gut sehen konnte, dass aber der Schuss durch eine Scheibe schwierig ist, weil es dort nicht geradeaus geht mit dem Projektil, sondern wir Abweichungen einzukalkulieren haben.“

Warum entschied sich die Polizei für die Taktik, die Täter an der „langen Leine“ zu verfolgen?

Höhbusch: „Die Gladbecker Geiselnahme in der ersten Phase war absolut typisch für Geiselnahmen in der damaligen Zeit. Ich würde sogar sagen, bis zur Kaperung des Busses in Bremen war nichts außergewöhnlich. Es war der Polizei zuvor mehrmals gelungen, durch die Taktik des vermeintlich verfolgungsfreien Abzugs Geiselnahmen erfolgreich zu beenden, ohne dass Geiseln zu Schaden gekommen wären.“

Warum klappte die Koordination der Einsatzkräfte nicht?

Pfannenschmidt: „Die Bremer hatten Probleme mit ihren Funkkanälen. Da funktionierte eine Menge nicht … Einmal soll sogar ein Telefongespräch deswegen nicht zustande gekommen sein, weil der Beamte, der den Funk zu besetzen hatte, auf Toilette war. Es gab eigentlich nur technische Pannen …

… auch die Niederländer fuhren auf anderen Funkwellen.“

Wieso sperrte niemand den Verkehr an der Bremer Bushaltestelle ab?

Pfannenschmidt: „Das war von uns zu viel verlangt. Wir waren keine Schutzpolizisten … Aber da liefen ja Menschen rein, die hat man in Gefahr gebracht, die sind ja sogar in den Bus eingestiegen … Das hätte verhindert werden sollen.“

Wieso erfolgte der Zugriff erst so spät und dann mit so schrecklichen Folgen?

Pfannenschmidt: „Ich kann mich noch erinnern, dass ich (von Bremen aus, d. Red.) telefonisch den Einsatzleiter in Gladbeck angerufen habe, weil Rösner ständig mit Pistolen hantierte und auch in die Luft schoss dabei und ich noch gefragt habe, ob er dann in der Situation möglicherweise die Vorgabe etwas heruntersetzen würde, um uns die Möglichkeit zu geben, früher einzugreifen. Aber er sagte: Nein!“

Granitzka: „Unsere Kollegen sind so ausgebildet, dass sie in einer Menschenmenge nicht mit der Waffe rumschießen. Man weiß nie, wo eine Kugel am Auto abprallt und wen sie dann umbringt.“

Pfannenschmidt: „Armin Mätzler (Einsatzleiter Köln, d. Red.) ist jemand, der bekannt dafür ist, dass er sehr ruhig, sehr ausgeglichen reagiert, der aber, wenn es erforderlich ist, Maßnahmen ergreift, die sehr schwierig abzuarbeiten sind … Dass das nicht ewig so weitergehen konnte, war klar. Das war schon eine Situation, die es in Deutschland und Europa bis dahin nicht gegeben hatte. Und von daher war es eigentlich nur die Frage, wann und wo und wie es zu Ende geht … Und von daher kam es dann zum Zugriff, aber leider … so, dass … die Täter nicht wie gewollt aktionsunfähig geworden sind, so dass letztlich auch ein Todesopfer zu beklagen gewesen ist …“

Granitzka: „Um die Geiseln zu befreien, kann man nicht im Sofa sitzen und sagen: Befreit sie mal! Das hat immer auch ein Risiko für die Geiseln. Immer. Und man muss nur eine Abwägung machen: Haben die wirklich eine faire Chance, dass sie vielleicht leicht verletzt, aber überleben können. Können wir sie retten? Das ist das erste und einzige, was man in so einer Verantwortung im Kopf hat … Wir müssen diese Geiseln retten. Und Ines Voitle und Silke Bischoff – die Bilder dieser jungen Frauen lagen auf meinem Schreibtisch. Und ich fühlte die Verantwortung … Umso stärker war auch der Schock, als Silke Bischoff gestorben ist … dieses junge Leben ist ausgelöscht worden … Da stand dann: Mal eben Todesschüsse angeordnet. Das war schon hart, muss ich sagen … Wir haben alles versucht, die Frau zu retten. Es ist uns nicht gelungen. Da haben wir alle lange dran getragen.“

Schürmann: „Das Negative (in der Kölner Innenstadt, d. Red.) war, dass es im Umfeld sehr viele gab, deren Reaktionen nicht abzuschätzen waren. Und da war für uns ein großes Problem. Ich konnte ohne weiteres zwei, drei Kollegen in Position bringen, verdeckt, auch unter gegebenenfalls einer Legende. Die hätten koordiniert, gleichzeitig einwirken können. Dagegen sprach allerdings, dass beide Täter durchgehend ihre Revolver mit vorgespanntem Hahn hatten. Und das bedeutet: Ein kleiner Fingerdruck hätte genügt, um einen Schuss abzugeben … In dieser Situation, so optimal wie sie erschien, so problematisch war sie auch. Und deshalb musste ich in diesem Falle auch meine Erkenntnisse weitergeben, dass hier ein Zugriff nicht möglich ist bzw. nur mit einem unvertretbaren Risiko. Wir hatten da bei einem Zugriff möglicherweise etliche Tote oder Verletzte gehabt …

… (Beim Zugriff auf der Autobahn, d. Red.) ist das Fahrzeug in der Tat gerade am Anfahren gewesen… Es kam zu einem Vollcrash… Das war nicht die optimale Situation … Das Schussergebnis war nicht so, wie wir das uns erhofft hatten … Bei gleichem Kenntnisstand von heute hätte ich den Zugriff wieder genau so veranlasst – und halte das auch für angemessen.“

Welchen Einfluss nahm die Politik, allen voran NRW-Innenminister Herbert Schnoor?

Höhbusch: „Mir ist nicht bekannt, dass es eine Einflussnahme des Innenministeriums gegeben hat, wobei ich nicht sagen kann, dass es nicht möglich gewesen wäre, dass es zu einem Telefonat zwischen Herrn Meise (Einsatzleiter Gladbeck, d.Red.) und dem Innenministerium gekommen wäre.“

Granitzka: „Dass ein Innenminister morgens um sieben oder acht irgendwelche Anweisungen an seine Mittelstadtpolizei gibt, das gibt es überhaupt nicht … es hat zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Einfluss des Ministeriums oder im Auftrag des Ministers, von Herbert Schnoor schon überhaupt nicht, gegeben. Es wäre auch völlig ungewöhnlich, dass ein Minister selber Anweisungen gibt.“

Warum gelang es nicht, die Medien auf Distanz zu halten?

Pfannenschmidt: „Wir brauchten sogar den Fotoreporter Peter Meyer als Vermittler. Es gab keinen Polizeibeamten, der diese Funktion hätte ausfüllen können … Als Einsatzleiter jemanden in eine solche Situation zu schicken, wissend, dass die beiden Geiselnehmer Hassgefühle gegenüber Polizeibeamten haben, und dem dann zu sagen, du musst da hingehen: Das ist wirklich nicht möglich. Das können Sie nicht machen … Denn die Todesstrafe ist eigentlich verboten bei uns …

Aber sonst habe ich so was in meinen vielen Polizeidienstjahren und Abenteuern, die ich als Polizist erlebt habe, so was habe ich noch nie erlebt … Es ist einmal ein Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn nach vorne gefahren. Dem ist auch frei gemacht worden. Den haben wir später auch bei der weiteren Verfolgung wieder gemütlich fahrend auf der Autobahn gesehen. Und da wurde klar, dass ein Pressemensch diesen Wagen gekapert hatte, um ganz nach vorne zu kommen.“

Granitzka: „Ich weiß gar nicht, wie viele Journalisten in ihre Autos sprangen und hinterher waren. Wir hatten tatsächlich die Anfrage, ob SEK auf die Reifen schießen dürfte, damit man diesen Tross los wurde. Und wir haben gesagt, nein, das ist zu gefährlich, das geht auf keinen Fall. Aber wir haben dann einen nach dem anderen mit Polizeifahrzeugen abgedrängt, so dass es dann Richtung Königshorst nicht mehr so viele waren.“

Schürmann: „„Die wollten hier nicht loslassen, die wollten da nicht weg. Sie wollten wahrscheinlich ihre Berichterstattung, sie wollten ihre Bilder.“

Warum setzte man nicht die GSG-9 ein?

Granitzka: „Wir hatten keinerlei Hemmungen, die einzusetzen. Das SEK war aber in voller Fahrt dran. Und wir wussten, und ich kannte Alfred Schürmann, und ich kannte die Jungs, jeden persönlich, und ich wusste, die sind so, dass sie voll ihre Aufgabe machen können. Deswegen kamen wir auch nicht auf die Idee, jetzt zu sagen: Wir müssen die jetzt auswechseln. Wenn es weiter gegangen wäre in Richtung Frankfurt, Würzburg oder so, dann hätten wir sie ausgewechselt. Da gab es keinerlei Hindernisse zwischen Bundes- und Landespolizei, überhaupt nicht.“

Schürmann: „Ich selber habe nie an die Landesgrenze (zu Rheinland-Pfalz, d. Red.) gedacht, ich wusste auch nicht, wohin es geht, es war klar, dass wir irgendwann abgelöst werden durch andere Spezialeinheiten, aber ich hätte mit Sicherheit nicht an dieser Raststätte Siegburg die Fahrzeuge noch einmal auftanken lassen, wenn ich gewusst hätte, ich mach jetzt hier 20 Kilometer weiter vor der Landesgrenze einen Zugriff. Wir haben da wertvolle Zeit verloren. Wir sind davon ausgegangen, dass wir jetzt noch einmal länger dran bleiben.“

Wie geht man während des Einsatzes mit dem Erlebten um?

Pfannenschmidt: „Sie müssen als Leiter eines solchen Einsatzes persönliche Dinge nach Möglichkeit ganz weit wegdrücken können. Sonst können Sie nämlich keine sachlich begründeten Entscheidungen treffen. Die Situation, dass man von Emotionen übermannt wird, die darf man sich als Polizeiführer nicht leisten. Das geht einfach nicht.“

Schürmann: „Ich habe den Einschuss (bei Silke Bischoff, d. Red.) gesehen und dann eben auch die Information bekommen, dass sie verstorben ist. Und das hat uns natürlich alle sehr betroffen gemacht … Es war gar nicht so leicht, das zu verarbeiten.“

In Bremen ist 30 Jahre nach Gladbeck keiner der Polizisten, die in der Zeit zwischen der Buskaperung und der Ermordung von Emanuele die Verantwortung trugen, bereit, über die Vorfälle von damals zu reden. Keine Antwort auf die Fragen, warum man nicht den Busbahnhof absperrt, warum Marion Löblich an der Raststätte Grundbergsee verhaftet wird, warum kein Notarzt mitgeführt wird.

Am Busbahnhof von Huckelriede soll jetzt eine Gedenktafel angebracht werden. Der Senat hat Ines Voitle eingeladen, um sich bei ihr zu entschuldigen.

Der Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses der Bremischen Bürgerschaft fällt bereits am 27. Oktober 1989 ein vernichtendes Urteil. Es habe „zum Teil erschreckende Führungsmängel“, „persönliches Versagen einzelner, insbesondere Führungsbeamter“ und „erhebliche strukturelle Mängel im Stadt- und Polizeiamt“  gegeben. Die Führungsbeamten seien ihrer Verantwortung „völlig unzureichend“ nachgekommen, sie hätten „ein hohes Maß an Inkompetenz gezeigt“ und seien „in sehr bedenkenloser Weise von zwingenden Dienstvorschriften abgewichen“. „Der Einsatz der Polizei lief in völlig unkoordinierter Weise ab.“

Dennoch muss nicht einmal der damalige Kripo-Chef Peter Möller seinen Posten räumen.

Nur Bremens Innensenator Bernd Meyer (SPD) muss wenige Wochen nach Gladbeck seinen Hut nehmen. Auch er will sich auf Anfrage nicht mehr äußern: „Ich habe alles dazu gesagt.“

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Schnoor (SPD) rettet sich in einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss und bleibt noch weitere Jahre im Amt. Er ist inzwischen 90 Jahre alt und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Berlin. In einer Mail schreibt seine Tochter 30 Jahre danach, zum Thema sei alles gesagt und gezeigt. „Seien Sie versichert, dass sich mein Vater immer an die Tragödie, die sich durch den Banküberfall von Gladbeck ereignet und entwickelt hat, erinnern wird.“