Degowski legt das Fernglas seit Wuppertal nicht mehr aus der Hand. Durch die Heckscheibe des BMW beobachtet er den Verkehr, immer auf der Suche nach möglichen Verfolgern. Rösner guckt angestrengt nach vorn. Auch er ist auf der Suche. Er will zum ersten Mal das Wahrzeichen seines neuen Sehnsuchtsorts am Horizont sehen: den Kölner Dom.

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Rösner will unbedingt in die Rheinmetropole. Irgendwann zwischen der holländischen Grenze und Münster erinnert er sich an eine Geschichte von früher: Einem Geiselnehmer war es gelungen, der Polizei im Gewirr der dichten Kölner Altstadtgassen zu entkommen. Jetzt will Rösner im Großstadtverkehr die Polizei narren.

 

 

Kurz vor 11 Uhr verlässt Rösner die Autobahn und biegt in Richtung Innenstadt ab. Er verspricht Silke Bischoff und Ines Voitle, sie freizulassen, sobald sie die Polizei abgehängt haben. Die Hinweisschilder in Richtung City führen ihn tief in das Labyrinth aus immer enger werdenden Einbahnstraßen. Rösner will zum Dom, sieht ihn kurz, verliert ihn wieder aus den Augen. Schließlich geht es nicht mehr weiter. In der Breiten Straße, mitten in einer Fußgängerzone, stellt er den Wagen ab.

Er steigt aus, holt Kaffee und besorgt in einer Boutique Jogginganzüge. Zu diesem Zeitpunkt ist kaum ein Passant zu sehen. Doch als einige den tätowierten Gangster erkennen, sammeln sich schlagartig Schaulustige um den BMW. Es stört Rösner nicht. Wie in Bremen will er möglichst viele Menschen versammeln, um der Polizei den Zugriff zu erschweren.

Udo Röbel (38) hat an diesem Donnerstag beste Laune. Der stellvertretende Chefredakteur des Kölner Express hatte zwei Tage frei. Er hat keine Nachrichten gehört, keine Zeitungen gelesen, sich einfach nur ausgeschlafen. An diesem Morgen verlässt er zum ersten mal wieder seine Wohnung, um eine Trainingsstunde im Tennis zu nehmen. Als er aus der Dusche kommt, sieht er im Frühstücksfernsehen zum ersten Mal, was in den letzten 51 Stunden passiert ist.

„Um die Schlagzeile brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“, denkt er sich, als er gegen 11 Uhr seinen roten Golf auf dem Hinterhof des Verlags- und Redaktionsgebäudes an der Breiten Straße parkt und hoch in die Redaktion geht. Dort liest er erst einmal die letzten Meldungen der Nachrichtenagenturen, als ein Redaktionsbote den Fernschreibraum betritt. „Das ist aber ein wildes Ding“, sagt Röbel. „Ja, die stehen gerade da unten“, antwortet der Bote. Röbel eilt sofort in die Fußgängerzone.

Ein paar Hundert Meter weiter, im Polizeipräsidium am Waidmarkt, fürchtet man zur selben Zeit die Katastrophe. „Nicht auszudenken, wenn Rösner und Degowski als Nächstes Geiseln im Kölner Dom genommen hätten“, erinnert sich der damals 46-jährige Winrich Granitzka, Polizeidirektor und stellvertretender Einsatzleiter in Köln. Rasch lässt er den Dom evakuieren. „Unsere große Befürchtung war, dass die Gangster ein Krankenhaus ansteuern könnten, um die Schussverletzung von Rösners Geliebten Marion Löblich behandeln zu lassen.“

Am Waidmarkt ist inzwischen dem ehrgeizigen Chef der Kölner Kriminalpolizei, Armin Mätzler (59), die Entscheidungsgewalt übertragen worden. Auch auf Geheiß seines obersten Dienstherrn, des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Schnoor (SPD). Das in ihn gesetzte Vertrauen will Mätzler nicht enttäuschen. Doch ihn treibt noch anderes an: Die Gangster sind jetzt in seinem Revier. Und hier wird es nicht zu Zuständen kommen wie in Bremen. Hier wird er dem Spuk endlich ein Ende bereiten. Koste es, was es wolle!

Bedenkenträger braucht Mätzler jetzt nicht mehr in seiner Nähe. Dem zuständigen Staatsanwalt verweigert er den Zugang zum Lagezentrum, ein Mitglied der Beratergruppe des Düsseldorfer Landeskriminalamtes (LKA) verweist er des Raumes. Dann lässt er vorsorglich Scharfschützen an Krankenhäusern und in der näheren Umgebung in Stellung gehen. Den Zugriff, „finaler Rettungsschuss eingeschlossen“, plant Mätzler schon für die Breite Straße. Um die Lage dort zu erkunden, schickt er zwei seiner höchsten Beamten in die Fußgängerzone: seinen Stabschef Kriminaloberrat Rolf Behrend (39) und den Leiter des Kölner Spezialeinsatzkommandos (SEK), Hauptkommissar Alfred Schürmann (37).

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