In Bremen ziehen dunkle Wolken auf. Nach Tagen mit strahlend blauem Himmel ist es schon am Vormittag des 17. August drückend heiß und schwül. Die Stadt scheint wie ausgestorben. Im Polizeihaus am Wall, dem umfunktionierten Gefängnis aus der Gründerzeit zwischen Altstadt und dem Szeneviertel Ostertor, sind die Straßen vereinsamt. Auch Polizeipräsident Ernst Diekmann (63) macht noch Ferien.

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Vielleicht liegt es an der spärlichen Besetzung, dass Dutzende von Fernschreiben, die in der Nacht in der Bremer Polizeizentrale auflaufen, bis in den Morgen hinein ungelesen bleiben. Fast im Minutentakt gibt das Düsseldorfer Innenministerium den neuesten Stand zu den flüchtigen Geiselgangstern Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski durch. Doch ausgerechnet die Bremer Kollegen schlafen noch.

 

 

Auch in Gladbeck ist man erschreckend ahnungslos. Dass Rösners Geliebte Marion Löblich seit Stunden mit im Fluchtwagen sitzt, ist den Verfolgern völlig entgangen. Bis zum späten Vormittag geht die Einsatzleitung davon aus, es mit zwei Gangstern und zwei Geiseln zu tun zu haben.

Erst gegen 11 Uhr verdichten sich Hinweise, eine fünfte Person sitze mit im Auto – „die Freundin des Rösner“, wie das Einsatzprotokoll vermerkt. Plötzlich dämmert der Polizei, was die Täter nach Bremen treibt: Löblichs Eltern leben in der Hansestadt. Sie wohnen im äußersten Norden, in Blumenthal.

Zwischen Gladbeck und Bremen wird eine telefonische Standleitung geschaltet. Doch nun offenbart sich die fatale Schwäche innerhalb der Bremer Verwaltung. Denn nicht nur der Polizeipräsident fehlt wegen seines Urlaubs – auch Innensenator B. Meyer (42) ist gerade einmal zehn Monate im Amt – und völlig unerfahren in der Innenpolitik. Von „erschreckenden Führungsmängeln“ und „persönlichem Versagen“ wird später die Rede sein. Die Zusammenarbeit sei „katastrophal schlecht“ gewesen.

+++ Der Bericht des Untersuchungsauschusses Bremen

Behäbig lässt Kripo-Chef Peter Möller (49) im Polizeihaus ein provisorisches Lagezentrum einrichten – neun Stühle, drapiert an hufeisenförmig aufgestellten Tischen, von denen die meisten lange Zeit leer bleiben. Einen Führungsstab bildet er gar nicht erst. Verbindungsbeamte für eine mögliche Kontaktaufnahme zu den Gangstern belässt Möller im Polizeirevier an der Hoyaer Straße, zwei Kilometer entfernt. Dann beordert er zwei Einsatzzüge nach Bremen-Nord. Die SEK-Männer sollen einige Tankstellen und das Wohnhaus von Löblichs Eltern umstellen. Koordiniert wird der Einsatz nach wie vor aus Gladbeck von Beamten, die über keinerlei Ortskenntnisse verfügen und sich vor der Einfahrt in die Hansestadt erst einmal Straßenpläne kaufen müssen.

Rückblick: Flucht durch Deutschland (Kapitel 2)

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Aufreizend langsam rollt der Fluchtwagen von der Auffahrt der Bank. Rösner scheint es nicht eilig zu haben. Statt Gladbeck auf schnellstem Weg zu verlassen, narrt er die Fahnder, fährt kreuz und quer. Die Polizei hat den Plan, die Täter mit ausreichend Abstand zu verfolgen. Die Hoffnung: Irgendwann würden die ihre Geiseln freilassen.

Die Akte: Untersuchungsauschuss NRW

Die Akte: Untersuchungsauschuss NRW

Fast zwei Stunden saßen die Gangster mit ihren Geiseln am Morgen des 17. August im Café Dickhut. Das Frühstück in Hagen gilt als eine der größten verpassten Chancen, dem Geiseldrama vorzeitig ein Ende zu bereiten.

Die Bremer Beamten bekommen zunächst gar nicht mit, wie die Gangster um kurz nach ein Uhr mittags nicht Blumenthal, sondern den sieben Kilometer entfernten Stadtteil Vegesack ansteuern. Rösner hatte seiner Geliebten versprochen, nach dem abrupten Aufbruch in der Nacht als Entschädigung einkaufen zu gehen. Statt unterzutauchen, geht das Pärchen in aller Ruhe einkaufen, am helllichten Tag mitten in einer Fußgängerzone. Den völlig übermüdeten Degowski lassen die beiden zwischen den Geiseln auf der Rückbank des Autos in der Seitenstraße Vegesacker Rampe zurück.

Über eine Stunde lang schlendert das Pärchen unbekümmert durch die Einkaufsmeile, erst zu Brigitte Moden, dann in drei weitere Boutiquen und Schuhgeschäfte. Sie kauft sich Blusen, Röcke, T-Shirts, Turnschuhe, eine blaue Windjacke, sechs Paar Socken und ebenso viele frische Slips. Er wählt eine schwarze Lederjacke und ein T-Shirt aus. Aufschrift: „Commander“.

Währenddessen steigt Degowski aus dem Auto. Minutenlang lässt er die Geiseln allein im Wagen zurück, nimmt die Waffe mit und uriniert gegen eine Hauswand. Danach setzt er sich erleichtert ins Auto, die Pistole auf dem Schoß. „Er schlief auf jeden Fall tief ein“, wird sich die Geisel A. später erinnern.

A. ist mit der Situation überfordert. Soll er die Tür aufreißen und weglaufen, auf die Gefahr hin, dass Degowski aufwacht? Soll er mit seiner Kollegin B. den Gangster überwältigen? Wie in Trance lassen die beiden die Gelegenheit ungenutzt. Und auch die Polizei bleibt passiv.

Niemand greift zu. Nichts passiert, obwohl die einmalige Chance besteht, Rösner und Löblich getrennt von Degowski festzunehmen. Aus Gladbeck kommt die Ansage: „Alle Bremer Kräfte zurückziehen, weg damit, von der Straße, will keinen sehen. Wir machen das jetzt.“Warum dann nichts geschieht, bleibt das Geheimnis von Einsatzleiter Meise. Die Bremer SEK-Männer sind noch immer sieben Kilometer entfernt in Blumenthal. Ein schwer bewaffnetes Spezialeinsatzkommando ist vor Ort. Hinzu kommen 26 Experten des Mobilen Einsatzkommandos mit 19 Autos und drei Hubschraubern. Vorgeschickt, um die Lage aufzuklären, wird allerdings nur ein einziger Beamter. Vergeblich bemüht er sich, freie Sicht aufs Fluchtauto zu bekommen. Mal steht ein Busch im Weg, mal eine Häuserecke. Schließlich meldet er frustriert, er habe nur „sporadisch Sicht“. Er sieht gerade noch, wie Rösner und Löblich zum Auto zurückkommen. Erneut ist eine Chance, das Geiseldrama zu beenden, vertan. Monatelang wird die Polizei später versuchen, diese Situation herunterzuspielen. Innenminister Schnoor versteift sich sogar zu der Aussage, der Vorgang sei polizeitaktisch „ohne Bedeutung“ gewesen.

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