Als der Bus anfährt und Bremen verlässt, postiert Rösner die Geiseln stehend vor den Fenstern. Erneut müssen sie einen menschlichen Schutzschild bilden. Die Angst vor Schüssen, der Polizei, dem Zugriff lässt Rösner beinahe irre werden.

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Wohin es gehen soll, weiß er nicht. Er will weg, einfach nur weg in die Nacht in Richtung Autobahn. Autotüren knallen, Motoren heulen auf. Wie ein Schwarm folgt die Meute der Journalisten. Eigentlich hätte der Bus die Endstation in Bremen-Brinkum längst erreicht haben müssen, hätten Eltern, Geschwister und Freunde mit ihren Liebsten längst am Abendbrottisch sitzen können. Eigentlich.

 

 

Busfahrer Paul M. steuert die erste Tankstelle am Stadtrand an. Heimlich hofft er auf die Befreiung durch die Polizei. Im Rückspiegel kann er die Beamten sehen, wie sie hinterherjagen. Er gaukelt den Gangstern vor, ohne ausreichend Diesel würde es knapp werden auf der Autobahn. Sie willigen ein. Degowski warnt, nicht „irgendwelche Mätzchen“ zu machen. Andernfalls werde er sofort eine Geisel erschießen.

Auf Silke Bischoff, die attraktive junge Frau, hat er es schon lange abgesehen. Er zieht sie vor den Bus, die Revolvermündung am Hals, den Abzugshahn gespannt, den Zeigefinger Millimeter neben dem Abzug. Völlig aufgelöst kommt Silke Bischoff nach dem Tanken zurück. Zitternd setzt sie sich neben ihre Freundin Ines Voitle.

Ines Voitle (heute Falk) im Linienbus 53 in Bremen.

Geisel Ines Voitle: „Silke hat angefangen, ihre Gefühle abzuschalten“

Als Degowski wieder in den Bus kommt, herrscht er Ines Voitle an, Platz zu machen. Er setzt sich neben Silke Bischoff. „Dich nehme ich als Geisel, dich nehme ich mit“, flüstert er ihr ins Ohr. Von dieser Sekunde an kann eine andere Geisel aufatmen: Andrea B. Die Bankangestellte aus Gladbeck, die Degowski eineinhalb Tage unentwegt mit der Waffe bedroht hat, wird für ihn schlagartig uninteressant. „Als er Silke sah, ließ er mich in Ruhe.“ Degowski stört es nicht, das Mädchen, das ihm gefällt, mit dem Tod zu bedrohen. Von Anfang an mischt sich Zuneigung in die Brutalität eines Mannes, der immer behauptet hat, man könne keiner Frau trauen.

Sein Kumpel Rösner misstraut vor allem der Polizei. Im Gefängnis hat er einmal gehört, in Holland seien die „Bullen besonders human“. Auf dem Weg in Richtung Autobahn erinnert er sich plötzlich wieder daran. Zunächst auf der A1 in Richtung Hamburg unterwegs, weist er den Busfahrer an, bei der nächsten Gelegenheit den Kurs zu ändern, um die Niederlande anzusteuern.

Dass ausgerechnet jetzt einige der Geiseln darum bitten, auf Toilette gehen zu dürfen, passt ihm gar nicht. Sie sollen doch „auf den Boden pissen“, pflichtet ihm Degowski bei. Aber weil auch Marion Löblich auf die Toilette muss, willigt er schließlich doch ein anzuhalten – in Grundbergsee. Es ist 22.29 Uhr.

Die Raststätte zwischen den Abfahrten Oyten und Stuckenborstel zählt nicht zu den schönsten: ein schmaler, flacher Bau aus roten Klinkern, ein lang gestrecktes Rechteck direkt neben den grell beleuchteten Zapfsäulen. Um den Zweckbau herum führt ein Fußweg aus grauen Waschbetonplatten – die Ästhetik der Siebzigerjahre. Männer und Frauen müssen denselben schmalen Flur betreten, um zu den Toiletten zu gelangen. Maximal zu dritt sollen die Geiseln auf die Toiletten gehen, bewacht von Marion Löblich.

Rösner organisiert im Kiosk eine Flasche Apfelkorn, Cola und Brötchen, Frikadellen und paketweise Süßes, alles in allem für fast 400 Mark.

Polizeiskizze: Raststätte Grundbergsee

Polizeiskizze: Raststätte Grundbergsee

Die Skizze der Autobahnraststätte macht deutlich, warum die Polizei hier niemals Marion Löblich hätte verhaften dürfen.

Detailskizze Linienbus Bremen

Detailskizze Linienbus Bremen

Die Skizze zeigt, wie der gekidnappte Linienbus 53 aus Bremen von innen aussieht.

Kamerateams, Reporter und Fotografen haben den Bus längst wieder entdeckt und umringen das Fahrzeug. Wie schon zuvor in Bremen wird die Szenerie mit großen Strahlern ausgeleuchtet, um bessere Bilder zu bekommen. Die Polizei hat nicht damit gerechnet, dass die Gangster so schnell wieder stoppen würden, die Raststätte ist nicht abgesperrt.

Vor wenigen Minuten hat das Geiseldrama zudem sein erstes Todesopfer gefordert. Ein Polizist rast in voller Fahrt bei der Verfolgung des Busses ungebremst in eine Baustelle und stirbt noch am Unfallort. Während dieses tragische Unglück für Minuten den Polizeifunk beherrscht, verteilen sich erste MEK-Fahrzeuge auf dem weitläufigen Gelände, das mehr einem großen Parkplatz für Lkw als einer einladenden Raststätte gleicht. Andere Polizisten mischen sich in Zivil unter Reporter und Neugierige.

Auch der Fotograf Peter Meyer ist dem Bus gefolgt. Rösner sieht ihn. Längst ist in ihm der Entschluss gereift, die völlig fertigen Bankangestellten A. und B. freizulassen – aber nur gegen Ersatz. Er winkt Meyer zu sich und fragt ihn, ob er sich als „Austauschgeisel“ in den Bus setzen würde. Meyer stimmt ohne Zögern zu. Als auch ein „Bild“-Reporter einwilligt, lässt Rösner die Gladbecker Geiseln frei. Vor allem A. ist mit seinen Kräften völlig am Ende. Zuletzt hat er nur noch zusammengekauert im Bus gesessen.

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