Rösner lässt den Bus vorfahren, näher an die Toiletten. Während Löblich mit Ines Voitle und zwei weiteren Geiseln den Toilettenflur betritt, steigt Degowski mit Silke Bischoff aus dem Bus vor die laufenden Kameras.

Den Revolver an den Hals der Geisel gedrückt, werden die beiden befragt. Ob sie Angst habe, getötet zu werden, will ein Reporter von Silke wissen. „Nein“, antwortet sie scheinbar emotionslos. „Zu jung“, kontert Degowski. Er sei aber zum Töten eines Menschen bereit, mit Pillen aufgeputscht, frisch genug, um auch kritische Situationen zu bewältigen.

Es ist 22.45 Uhr.

Seit dem Kapern des Busses, besonders seitdem Tatjana von Rösner mit vorgehaltener Pistole mit dem Tode bedroht worden ist, legt Emanuele seinen Arm schützend um seine kleine Schwester. Emanuele hat eigentlich gar nicht mit im Bus sitzen wollen. Seine aus Süditalien stammenden Eltern haben ihn darum gebeten, Tatjana am Nachmittag sicher nach Hause zu begleiten. Emanuele gibt nach. Der Junge ist zum ersten Mal ein wenig verliebt. Viel lieber hätte er sich ganz woanders aufgehalten. Aber nun fühlt er, dass es vielleicht doch so etwas wie höhere Fügung gibt, die ihn jetzt neben Tatjana sitzen lässt.

Währenddessen sucht die Polizeiführung in Bremen eher nach einer Exit-Strategie für sich selbst als für die Geiseln. Einsatzleiter Möller ist durch den Halt in Grundbergsee vollends aus der Bahn geworfen. Ihm im Nacken sitzt seit mehr als einer Stunde Bremens Bürgermeister Klaus Wedemeier, wie Möller SPD-Genosse. Der Parteichef der Hansestadt hindert nicht einmal seinen Chauffeur daran, den Polizisten im Lagezentrum unqualifizierte Anweisungen und Tipps zu geben. Niemand traut sich zu widersprechen. Ein falsches Wort, eine falsche Handlung – und die Karriere ist vorbei. Und so telefoniert Möller lieber mit seinen niedersächsischen Kollegen über einen Wechsel in der Einsatzführung, als sich selbst auf dem Laufenden zu halten. Er will die Verantwortung so schnell wie möglich abgeben.

Weil der Funkverkehr immer noch bruchstückhaft läuft, weiß Möller nichts von dem, was in Grundbergsee gerade passiert. Er weiß nicht, dass seine Beamten in dieser Sekunde eigenmächtig eine folgenschwere Fehlentscheidung treffen. Als einige Polizisten durch die spärlich ausgeleuchtete Eingangstür zum Toilettenflur zu erkennen glauben, wie Löblich „auf’m WC mit Waffe“ auftaucht, ruft einer von ihnen in sein Funkgerät: „Wir stehen unmittelbar dabei. Soll ich sie abfischen?“ Niemand stört sich daran, dass Rösner in diesem Augenblick immer noch 30 Geiseln in seiner Gewalt hat – auch nicht der zuständige MEK-Gruppenführer. Der antwortet: „Wenn’s eben möglich ist, hol se.“

+++ Der Bremer Polizeifunk von 1988 zum Nachlesen

Als Löblich aus der Toilette kommt, wird sie von zwei MEK-Beamten überwältigt und zu Boden gerissen. Bis heute ist ungeklärt, ob sich die Polizisten durch Löblichs Waffe bedroht fühlten oder – ermuntert durch den Funkspruch – leichtsinnig und unüberlegt handelten. Löblich gelingt es noch, einen kurzen Schrei auszustoßen. Doch Degowski, der noch immer nur wenige Meter entfernt mit Silke vor der Tür steht, bekommt davon nichts mit. Die MEK-Männer schleifen Löblich über den Boden an der von Degowski abgewandten Seite aus dem Flur, entwaffnen sie und legen Handfesseln an, die sie sich von SEK-Kollegen ausgeliehen haben. Löblich erklärt, sie sei froh, dass alles vorbei ist. Noch ahnt sie nicht, dass jetzt erst alles anfängt.

Anders als Degowski hört Fotoreporter Meyer Löblichs kurzen Schrei. Er steht nur wenige Meter von Degowski entfernt und gibt ebenfalls gerade ein Interview. Als das zu Ende ist, berichtet ihm der Beleuchter eines ARD-Teams, Löblich sei soeben verhaftet worden. Die TV-Leute werden kurz stutzig. Steht jetzt der Zugriff bevor? Gibt es womöglich gleich ein Blutbad? Doch der Wunsch, auch noch Degowski zu interviewen ist stärker als die Angst vor möglicher Gefahr.

Rösner hat den Schrei von Löblich gehört, ihm zunächst aber keine Bedeutung beigemessen. Erst als seine Geliebte nach einiger Zeit nicht wiederkommt, beginnt ihm zu dämmern, was passiert sein könnte. Er schickt Meyer los, die Lage aufzuklären. Dessen Antwort versetzt Rösner in Panik. Löblich sei verhaftet worden. Rösner gerät in Rage, flucht über die Polizei, packt sich Tatjana und spricht noch bei offener Bustür davon, dass er gleich abdrücken werde, wenn Löblich nicht sofort zurückkehre. Dann ruft er Degowski zurück, der mit Silke wieder in den Bus steigt. Rösner „kauert, kniet oder liegt halb mit Tatjana“ im hinteren Teil des Busses im Mittelgang, heißt es später im Prozessurteil. Degowski hockt vorn vor Silke Bischoff, die sich mit dem Rücken zur Seitenwand auf einen der vorderen Plätze gesetzt hat, den Revolver unter das Kinn des Mädchens gepresst. Die Gangster rechnen jetzt fest mit dem Zugriff der Polizei und damit, jede Sekunde erschossen zu werden. Meyer will ausgemacht haben, dass Rösner kurz davor ist, durchzudrehen. Es gebe Tote, sie würden bald jemanden umlegen, schreien beide wild durcheinander, wenn Marion nicht umgehend zurückkomme. Dabei beschimpfen sie die Polizei fortwährend als „Bullen“ und „Schweine“.

Dann schnappt sich Rösner den Fotografen Meyer und schickt ihn mit einem Ultimatum auf die Straße. Wenn Marion nicht in fünf Minuten zurück sei, werde eine Geisel erschossen. Es ist Punkt 23 Uhr. Meyer befolgt die Anweisung und meldet sie der Polizei. Die verspricht, Löblich umgehend in den Bus zurückzuschicken.

Löblich ist zu diesem Zeitpunkt längst an einen abgelegenen Teil der Raststätte gebracht worden. Die Beamten dort haben den Funk ausgestellt. Doch noch viel folgenschwerer: Die MEK-Beamten können die Handschellen ihrer SEK-Kollegen nicht öffnen – sie haben schlicht die falschen Schlüssel. Kostbare Sekunden verstreichen, ohne dass etwas geschieht. Ines Voitle wird später sagen, ihr seien die fünf Minuten des Ultimatums wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Geisel Ines Voitle: „Silke und ich waren wie Geschwister“

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