Im Gegensatz zu Rösner hat Dieter Degowski erst im Gefängnis lesen und schreiben gelernt. Seinem Komplizen war er schon als Kind in der Sonderschule körperlich und geistig weit unterlegen. Und auch seine kriminelle Energie war bis zu der Geiselnahme eher schwach ausgeprägt. Die Liste seiner Vorstrafen ist überschaubar: Hier mal ein paar Flaschen Bier aus einem Keller gestohlen, da mal eine Kiste Eier aus einem Auto. Schon beim Versuch, ein Autoradio zu entwenden, scheitert er kläglich.

Wie wird ein Eierdieb zum Geiselgangster und Mörder?

Dieter Degowski wird am 4. Juni 1956 in Gladbeck geboren. Er ist das fünfte von sechs Kindern, hat drei Brüder und zwei Schwestern. Der Vater arbeitet bei der Müllabfuhr, die Mutter nebenher als Putzhilfe oder Kellnerin. Untergebracht ist die Familie in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einer Arbeitersiedlung in Gladbeck.

Die frühkindliche Entwicklung von Degowski ist von Anfang an gestört. Er lernt schlecht laufen, zieht für längere Zeit immer ein Bein hinter sich her und bewegt sich eher hüpfend fort. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr ist er Bettnässer und stottert zudem. Vermutlich Folgen einer frühen Hirnschädigung, wie die Gutachter meinen. Ob schon im Mutterleib oder während oder kurz nach der Geburt, können sie nicht mehr feststellen.

Auch geistig hinkt Degowski Gleichaltrigen hinterher. Eingeschult kann er erst mit sieben Jahren werden. Doch schon für die erste Grundschulklasse ist er zu lernschwach. „Das ging mir alles immer viel zu schnell“, sagt er später. Nach zwei Jahren kommt er in die Sonderschule, wo er zum ersten Mal Hans-Jürgen Rösner kennenlernt.

Beide verstehen sich auf Anhieb. Rösner ist einer der wenigen Jungen, der ihn nicht hänselt, der ihn so akzeptiert, wie er ist. Beide kommen aus fast identischen Familien, in denen Alkoholmissbrauch und Prügel an der Tagesordnung sind. Und beide treiben sich in ihrer Freizeit lieber mit den Jungs aus den „Pampas“ herum als mit ihren Mitschülern.

Die „Pampas“, so nennen sie in Gladbeck damals eine mietfreie Siedlung für sozial Schwache oder „Asoziale“, wie der Volksmund sagt. Hier wohnt auch die Großmutter von Degowski – und der Mann, der den neunjährigen Rösner zu seinem ersten Ladendiebstahl verführt hat. Und genau wie Rösner erfährt auch der junge Degowski durch diesen Mann zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Selbstwertgefühl.

„Ja, der hat nicht zu mir gesagt, kannst ja nicht lesen und schreiben“, sagt Degowski im Bericht seines Gutachters. „Der hat mich für voll genommen.“

Wie Rösner lässt sich von nun an auch Degowski von diesem Mann mit in die Stadt nehmen, wo sie für ihn Ladendiebstähle begehen. Mit dabei auch der gleichaltrige Sohn dieses Mannes, der wie Rösner für Degowski zu einer Art Bruder wird.

Degowskis Vater verbietet ihm den Umgang mit dem Jungen aus den „Pampas“. Doch auch Schläge halten ihn nicht davon ab, ihn zu treffen. Zudem ist der Vater inzwischen Schwerstalkoholiker und selbst zum Prügeln zu schwach, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Ihn Gladbeck nennen sie ihn schon den „Assi“, weil er angeblich einmal eine Dreiliterflasche Asbach auf einmal getrunken hat.

Auch die Mutter kann nur noch hilflos reagieren, wenn die Polizei ihren Sohn wieder einmal bei einem Ladendiebstahl erwischt hat und sie zur Wache einbestellt, um ihr Kind abzuholen: „Zur Strafe gehst du zu Fuß nach Hause.“

Noch ist Degowski strafunmündig. Seinen ersten Freizeitarrest wegen „Genussmittelentwendung“ kassiert er im Alter von 15 Jahren. Zu dieser Zeit verlässt er auch die Sonderschule und nimmt eine Stelle als Hilfsarbeiter in einer Gießerei an. Doch seine Wirbelsäule ist krumm, seine körperliche Konstitution noch viel zu schwach für die harte Arbeit in der Fabrik. Erst durch regelmäßiges Schwimmen und Krafttraining ist er später in der Lage, auf dem Bau zu arbeiten. Nach einem halben Jahr bricht er ab und beginnt, als Hilfskraft in einer Metzgerei zu arbeiten. Doch die Hoffnungen auf eine ordentliche Ausbildung zerschlagen sich, weil der Meister ihm einen besseren Lehrling vorzieht. Der zweite Metzger, bei dem er anfängt, muss wegen einer Erkrankung sein Geschäft aufgeben.

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