Der deutsche Philosoph Stefan Gosepath lehrt am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem lokale, globale und angewandte Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte, Theorien der Vernunft und Rationalität, Moralphilosophie, Ethik und Handlungstheorie. Im Interview spricht Gosepath über die ethische Bewertung der Geiselnahme von Gladbeck.
Ist es ethisch zu verantworten, Menschen zu töten, um andere zu retten?
Grundsätzlich ist das menschliche Leben in seiner Würde allseits und allzeit zu schützen. Ein ‚Aufrechnen‘ eines Lebens gegen das vieler ist unzulässig. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil so festgelegt. So darf man nicht einige Menschen töten, um andere zu retten.
Wie ist der finale Rettungsschuss zu rechtfertigen? Ist er das überhaupt?
Bedroht jemand andere Personen mit dem Leben, so haben die Angegriffenen und stellvertretend dann auch andere dazu besser Befähigte, so zum Beispiel die Polizei, das Recht auf Selbstverteidigung. Das Recht darf aber nur in angemessener und nicht in überzogener Weise ausgeübt werden. Dafür gibt es genaue Kriterien der Proportionalität der Verteidigung. Ein finaler Rettungsschuss, also das gezielte Töten des Angreifers, ist nur als allerletztes Mittel, wenn keine anderen geringeren Maßnahmen mehr zur Verfügung stehen, gerechtfertigt.
Wie weit reicht die Verantwortung des Staates, wenn es um das Leben seiner Bürger geht?
Eine der, wenn nicht die wesentliche Aufgaben des Staates ist der Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Inneren wie nach Außen. Das sollte vor allem präventiv geschehen. Der Staat sollte Vorkehrungen schaffen, damit es gar nicht zu Verletzungen der äußeren und inneren Sicherheit kommt. Dabei gilt es jedoch, die Freiheit eines jeden Einzelnen mit der Sicherheit für alle in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Wie das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit aussehen sollte, muss jeweils neu, angesichts neuer Bedrohungen (zum Beispiel heute durch Cyberangriffe), öffentlich politisch diskutiert und entschieden werden.
Wie weit dürfen Journalisten gehen, wenn sie über eine Geschichte berichten, ohne ethische Grenzen zu überschreiten und die Würde und Persönlichkeitsrechte einzelner zu verletzen?
Journalisten haben natürlich zunächst mal die Aufgabe und als Teil der sogenannten vierten Gewalt im Staat auch die Pflicht, von solchen herausragenden Ereignissen wie dem Gladbecker Geiseldrama so aktuell und akkurat wie möglich zu berichten. Diese Aufgabe hat jedoch ihre Grenze, wenn das Leben oder die Würde von Personen, in diesem Fall der Geiseln, dadurch akut gefährdet werden. Die gute Story rechtfertigt weder Hinweise auf das Vorgehen der Sicherheitskräfte, noch die Persönlichkeitsrechte einzelner durch zu genaue Fotos von oder Berichterstattung über den physischen und psychischen Zustands der Geiseln, noch die zu enge Anbiederung an die Geiselnehmer, die dadurch direkt (gegebenenfalls durch Hinweise und Behinderung der Polizeiarbeit) und indirekt psychologisch Unterstützung erhielten.
Haben die Medien versagt, als sich Journalisten während des Geiseldramas von Gladbeck zu Beratern der Täter machten? Wo liegt die Grenze?
Das Verhalten der beteiligten Journalisten, die die Täter interviewten, im Fluchtfahrzeug mitfuhren und durch ihre große Nähe zum Geschehen die Polizeiarbeit behinderten, war ethisch unangemessen. Dadurch wurde eine intensive Diskussion über die Rolle des Journalismus angestoßen, so dass ähnliche Fälle hoffentlich heute nicht mehr vorkommen, weil sich Journalisten ihrer ethischen Verantwortung inzwischen hoffentlich bewusster sind.
Wann ist eine Schuld gesühnt?
Wer seine rechtliche Strafe abgegolten hat, sollte rehabilitiert werden und danach ein normales bürgerliches Leben in unseren Gesellschaften leben können. Über das gerechte Maß der Strafe wird dabei gesellschaftlich gestritten. Dabei sollte der Gedanke der gelingenden Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Vordergrund stehen.
Wie sollte die Gesellschaft mit den Opfern und Hinterbliebenen umgehen?
Opfer und Hinterbliebene der Opfer finden es oft schwer, mit der aus ihrer Sicht zu leichten oder kurzen Strafe der Täter umzugehen. Ihnen sollte geholfen werden, mit ihrem Schmerz und Verlust der nahen Angehörigen umzugehen. Ihnen ist in der Regel auch mit dem bloßen Wegsperren der Täter nicht genug gedient. Sie müssen ihr schweres Schicksal bewältigen lernen. Dabei kann die Gesellschaft ihnen helfen, indem sie das Andenken an die Opfer und die Tat wach hält.