„Kein Mensch ist ein Monster“
„Als Rudolf Esders, Vorsitzender der II. Großen Strafkammer am Landgericht Essen, am 22. März 1991 nach 102 Verhandlungstagen das Urteil gegen Rösner, Degowski und Löblich verkündet, ist er an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen. Das Urteil: Hans-Jürgen Rösner wird zu lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Dieter Degowski erhält ebenfalls lebenslänglich, jedoch ohne Sicherungsverwahrung. Und Marion Löblich muss für neun Jahre ins Gefängnis.
Esders ist 52 Jahre alt und ein erfahrener Richter, als er am 21. März 1991 den Prozess gegen die Geiselgangster von Gladbeck eröffnet. Mehr als einmal hat er schon in schlimmste menschliche Abgründe geschaut. Aber noch nie stand er so im Scheinwerferlicht. Ein ganzes Land will jetzt Vergeltung für die toten Geiseln. Doch seine Aufgabe ist es, nicht zu rächen, sondern sachlich und gerecht zu urteilen – und die Balance zu halten zwischen zwei Lagern, die sich von Anfang aggressiv gegenüberstehen: auf der einen Seite die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger, die mit den Angeklagten am liebsten kurzen Prozess machen wollen – auf der anderen Seite die Verteidigung mit dem gewieften Münchener Staranwalt Rolf Bossi an der Spitze, die nur darauf lauert, dass dem Richter ein Verfahrensfehler unterläuft.
Schon der kleinste Formfehler kann dazu führen, dass der Prozess platzt oder neu aufgerollt werden muss. „Dann hätten die mich in der Kantine nicht mehr angeschaut“, sagt Rudolf Esders heute. Dass es nicht dazu kommt, hat er auch seiner akribischen Vorbereitung auf die Verhandlung zu verdanken: Auch die kleinste Aktennotiz hat er gelesen, sich alle verfügbaren Tonbänder mit den mitgeschnitten Gesprächen im Fluchtauto persönlich angehört. Selbst auf einem Schießstand der Essener Polizei ist er gewesen, um sich persönlich einen Eindruck zu machen, wie schnell sich ein Schuss aus einer Waffe lösen kann.
„Bei einer Coltpistole, wie sie Rösner und Degowski benutzten, genügt im entsicherten Zustand schon der Gedanke daran abzudrücken, und sie geht los“, sagt er. „Meine Frau, die mit mir auf dem Schießstand war, wollte das auch nicht glauben – und hat prompt ein Loch in den Tisch geschossen.“
Es ist ein Umstand, der später Hans-Jürgen Rösner zu Gute kommt. Ihm konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass er in Mordabsicht auf die Geisel Silke Bischoff zielte, als die Polizei das Geiselauto rammte und das Feuer eröffnete. Die Kugel aus seinem Revolver hätte sich auch unbewusst gelöst haben können. Im Gegensatz zu seinem Komplizen Dieter Degowski, dem Mörder des 15jährigen Emanuel, ist Rösner deshalb auch nicht wegen Mordes verurteilt worden.
Mit eine der größten Sorgen Esders ist, dass ein Foto aus den Prozessakten seinen Weg in die Öffentlichkeit finden könnte. Es zeigt die erschossene Geisel Silke Bischoff mit entblößtem Oberkörper beim Versuch der Notärzte sie zu reanimieren. „Nicht auszudenken, wenn dieses Foto in einer Illustrierten erschienen wäre“, sagt Esders heute. Der Richter lässt das Foto deshalb aus den Akten nehmen und in einen Gerichtstresor legen. Nach dem Prozess übergab er es den Angehörigen von Silke Bischoff.
Rösner wollte Esders als seinen Anwalt
Für Rösner und Degowski gelten für den Prozess erhöhte Sicherheitsmaßnahmen. Nicht nur weil sie ihre Gewalttätigkeit hinänglich unter Beweis gestellt haben. Angeblich hat die Mafia ein Kopfgeld von einer Million Mark für ihren Tod ausgesetzt. Beide dürfen deshalb während der Verhandlungspausen auch nicht auf den Hof des Justizgebäudes. Dafür bekommen sie so viel Kaffee, wie sie wollen.
Im Lauf der Verhandlung baut sich zwischen Rösner und seinem Richter eine Art Vertrauensverhältnis auf. Rösner fühlt sich fair und respektvoll behandelt, so wie er es sich in seiner Kindheit vielleicht von seinem Vater gewünscht hätte. Ob er in Rudolf Esders plötzlich eine Art Ersatzvater sieht, vermag dieser nicht zu beurteilen.
In einem ihrer letzten persönlichen Gespräche fragt Rösner Esders nach der Urteilsverkündung, ob er denn auch für lebenslänglich gestimmt habe. Als der Richter ihm erklärt, dass dies der Geheimhaltung unterliegt, nickt Rösner mit dem Kopf: Gut, wenn auch Sie dafür waren, werde ich auf eine Berufung verzichten. So kommt es auch. Rösner akzeptiert das Urteil. Jahre später, als Esders schon pensioniert ist und nur noch als privater Anwalt tätig ist, schreibt er ihn aus dem Gefängnis an und fragt, ob er denn nicht jetzt auch sein Anwalt werden könne …
Esders hat das abgelehnt. Seine Prozessführung bezeichnen die Medien später als „Glücksfall“. Ihn selbst hat der Prozess an seine persönlichen Grenzen geführt. „Während des Prozesses bin ich ein richtiges Ekelpaket geworden. Beim Tennis habe ich zum Beispiel direkt auf meinen Gegner gezielt. Und auch meine beiden Töchter haben mir hinterher gesagt, dass ich zu dieser Zeit kaum zu ertragen gewesen wäre.“
Und was sagt der Richter heute? Dass mit Dieter Degowski inzwischen das erste der „Monster von Gladbeck“ wieder freigelassen wurde? Und über die öffentliche Empörung darüber?
Rudolf Esders nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, der vor ihm steht: „Das wird wahrscheinlich an den vielen Fotos, Videos und Filmen liegen, die immer noch die ganze Geschichte lebendig machen.“, sagt er. „Wenn die nicht wären, dann würde heute kaum noch jemand über Gladbeck sprechen. Im Übrigen waren es keine Monster. Sie mögen sich so benommen haben, aber kein Mensch ist ein Monster. Ich habe das auch eine Weile vertreten, dass es das Böse gibt im Menschen. Die Sachverständigen haben mir gesagt, ich irre. Ich bin jetzt geneigt, immer nur von Persönlichkeitsstörungen zu sprechen und nicht vom Bösen.“