Reinhold A. ist Patient von Dr. Kemmuna. Er leidet an zeitweisen Herzrhythmusstörungen und niedrigem Blutdruck. Der Arzt begreift sofort, dass er gerade Augenzeuge eines Banküberfalls wird und sich sein Patient in höchster Gefahr befindet. Instinktiv reagiert er richtig: So, als ob er nichts bemerkt hätte, geht er normalen Schrittes weiter, bis er aus dem Gesichtsfeld der Bankräuber ist.

Dann hastet er die Treppen zu seiner Praxis hinauf, nimmt den Telefonhörer auf und wählt den Notruf 110. Ein Zufall, dass sich an diesem Morgen auch der Filialleiter der Bank, Wolfgang S., verspätet. Was die beiden Gangster nicht bedacht haben: Sie brauchen nicht nur den Schlüssel des Kassierers, sondern auch den des Leiters, um den Tresor zu öffnen.

Was tun? Wieder unverrichteter Dinge abziehen? Wie schon einmal, sieben Stunden zuvor? Gegen ein Uhr nachts hatten sie in eine Filiale der Stadtsparkasse Gladbeck eindringen wollen. Doch schon beim Versuch, die Fensterläden hochzuschieben, machten sie so viel Lärm, dass Anwohner die Polizei riefen.

Und nun, am Morgen danach?

Die Entscheidung wird ihnen durch die Polizei abgenommen, die nach dem Notruf von Dr. Kemmuna sofort zwei Streifenwagen zur Bank geschickt hat. Doch schon die ersten Polizisten, die in dieses Verbrechen unmittelbar involviert sind, machen zwei verhängnisvolle Fehler.

Die Besatzung des Streifenwagens „Herta 13/21“ ist noch unerfahren. Sie kontrolliert gerade einen liegen geblieben Lkw, als sie über Funk in die Schwechater Straße geschickt wird. Die Beamten sollen erst einmal die Rückseite der überfallenen Bank sichern. Ganz nach Vorschrift fahren sie ohne Martinshorn vor und schalten wenige Hundert Meter vor der Bank auch das Blaulicht aus, um die Gangster nicht aufzuschrecken. Doch unvorsichtigerweise nehmen die Polizisten an, dass die Bank an der Rückseite nur Oberlichter hat. Als sie um die Ecke biegen, fahren sie an breiten Glasfenstern vorbei – den Bankräubern direkt ins Sichtfeld.

Das Wortlautprotokoll aus der Bank

Das Wortlautprotokoll aus der Bank

Immer wieder hat die Polizei am ersten Tag der Geiselnahme mit den Gangstern Rösner und Degowski in der Bank telefoniert. Die Gespräche führt aufseiten der Polizei Kriminalhauptkommissar Manfred Doerks aus einer Gruppe psychologisch geschulter Verhandlungsführer der Polizei Dortmund.

Das Versagen der Gladbecker Polizei

Das Versagen der Gladbecker Polizei

Von Anfang an war das Geiseldrama von Gladbeck überschattet von Fehlern der Polizei. Immer wieder ging ihre Taktik nicht auf. Immer wieder verpasste sie auch beste Gelegenheiten, einzugreifen und die Geiselnahme vorzeitig zu beenden.

Auch die Besatzung von „Herta 13/20“ wird von der Funkzentrale zum Eingang der Bank geschickt. Mit an Bord ein Polizeihauptmeister, der sich mit einer Maschinenpistole bewaffnet filmreif hinter einem Blumenkübel in Stellung bringt. Alles vor den Augen der beiden Bankräuber, die nun endgültig wissen, dass der Fluchtweg versperrt ist und sie in der Falle sitzen.

Es ist jetzt 8.08 Uhr. Aus dem Banküberfall ist eine Geiselnahme geworden. Und schon bald wird das ganze Land live am Radio und im Fernsehen mit dabei sein, wie sich ein Allerweltsverbrechen zu einer Tragödie nationalen Ausmaßes auswächst.

Als Erstes versperren die Gangster den Blick in die Bank durch das Vorziehen der Vorhänge und das Aufstellen von Werbeplakaten vor den Fensterscheiben an der Rückseite. Dann zwingen sie den Kassierer und seine Kollegin, die Kundenberaterin Andrea B. (24), in die schusssichere Kassenbox, um der Polizei die gewaltsame Befreiung der Geiseln zu erschweren. Und um zu beweisen, dass sie jetzt zu allem entschlossen sind, beginnen sie wie wild um sich zu schießen. Erst wahllos in die Decke, dann gezielt auf einen Polizisten, der vor der Bank mit einer MP in Stellung gegangen ist.

Die Kugel verfehlt ihr Ziel. Aber die Schüsse zeigen Wirkung. Nach und nach rücken immer mehr Polizeikräfte aus ganz Nordrhein-Westfalen an: Zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei, die Beratergruppe für Fälle schwerster Gewaltkriminalität des Landeskriminalamtes in Düsseldorf, das Spezialeinsatzkommando (SEK) aus dem nahen Essen, die mobilen Einsatzkommandos (MEK) aus Münster und Köln – und aus Dortmund psychologisch geschulte Verhandlungsführer. Die Einsatzleitung übernimmt der leitende Kriminaldirektor Friedhelm Meise (47) aus dem Polizeipräsidium Recklinghausen, ein langjähriger Mitarbeiter des amtierenden NRW-Innenministers Herbert Schnoor (SPD, 61).Meise ist ein erfahrener Mann. Die Polizeidienstvorschrift 132 „Einsatz bei Geiselnahmen“ kann er im Schlaf aufsagen. Und er erkennt schnell, dass seine Experten vor Ort die Situation richtig einschätzen: Die Bank zu stürmen wäre mit einem hohen Risiko verbunden, dass die Geiseln dabei ihr Leben lassen.

Stattdessen setzt er auf die Taktik „ermüden und zermürben“ und schickt Kriminalhauptkommissar Manfred Doerks aus der Gruppe der Verhandlungsführer an die Front. Der soll am Telefon das Vertrauen der Täter gewinnen, auf ihre Forderungen eingehen, sie aber auch immer wieder hinhalten und so verunsichern, dass sie vielleicht aufgeben. Und: Er soll endlich herausfinden, um wen es sich bei den Tätern eigentlich handelt und wie sie psychologisch einzuschätzen sind.

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