Als die 13-jährige Nicole am Mittag des 16. August 1988 nach Hause kommt, ist sie ganz aufgeregt. „Mama“, fragt sie, „warum ist denn überall Polizei? Halb Gladbeck ist abgesperrt.“ Die Mutter ist Marion Löblich und ahnt sofort, dass der Polizeieinsatz nur einem Mann gelten kann: Hans-Jürgen Rösner, ihrem „Hanusch“. Wenig später hat sie Gewissheit. Zum ersten Mal wird der Name ihres Geliebten auch in den Nachrichten erwähnt. Und neun Stunden später wird sie aus freien Stücken zum ihm in das Geiselauto steigen.
Wie wird eine Mutter einem Gewaltverbrecher hörig?
Marion Irma Löblich, geborene Müller, kommt am 14. April 1954 in Bremen zur Welt. Sie ist das zweite von acht Kindern. Der Vater ist Hilfsarbeiter, die Mutter überfordert. Zu der schlechten finanziellen Situation kommt hinzu, dass die Familie in einer Notunterkunft lebt: drei Zimmer in einer Baracke ohne Bad und Toilette. Gewaschen wird sich in der Küche, wo Marion auch schlafen muss.
Schon früh muss die älteste Tochter im Haushalt mitanpacken, sich insbesondere um die Versorgung der jüngeren Geschwister, darunter eine sprachbehinderte Schwester, kümmern. Obwohl sie in der Grundschule eigentlich gut mitkommt, schickt sie die Mutter nach drei Jahren in die Sonderschule, wo auch viele andere Kinder aus der Nachbarschaft sind.
Die Sonderschule schließt sie mit guten Noten ab. Sie hat sogar zwei Klassen übersprungen. Doch ihre Träume, nun endlich aus dem beengten Milieu herauszukommen, erfüllen sich nicht. Das wenige, das sie als Haushaltshilfe, Aushilfsverkäuferin oder Hilfsarbeiterin in einer Fabrik verdient, muss sie fast zur Gänze zu Hause wieder abgeben.
Die „Flucht aus dem Elternhaus“ gelingt ihr erst, als sie mit 16 Jahren ihren ersten Ehemann kennenlernt. Marion hat zu diesem Zeitpunkt begonnen, als Hilfsköchin in einem Krankenhaus zu arbeiten, und will dort auch eine richtige Lehre zur Diätköchin machen. Nun setzt sie die Pille ab, um sich bewusst schwängern zu lassen.
„Das war reines Mittel zum Zweck“, wird sie später bei ihrer Begutachtung sagen. „Nur um endlich von zu Hause wegzukommen.“ Außerdem habe sie damals zum ersten Mal das Gefühl gehabt, einen Menschen ganz für sich allein zu haben.
Ein Jahr später ist sie schwanger und heiratet. Im selben Jahr kommt ihre erste Tochter Leila zur Welt.
Zwei Jahre später ist sie erneut schwanger – und die Ehe zerbrochen. Ihr Mann hat sie mit einer Freundin betrogen. Noch während der Scheidung bringt sie 1975 ihre zweite Tochter Nicole zur Welt.
Mit 19 Jahren schon zweifache alleinerziehende Mutter. Um versorgt zu sein, geht sie schon ein Jahr darauf die nächste „Zweckehe“ ein. In Duisburg heiratet sie einen Binnenschiffer, der selbst drei Kinder in die Ehe mitbringt. Seine Wohnung nimmt das Paar in Gladbeck.
Finanziell geht es ihr jetzt gut. „Sogar sehr gut“, wie sie später sagt. Aber der Mann ist aus beruflichen Gründen fast nie zu Hause, und ob sie außer Zuneigung auch Liebe zu ihrem Mann empfunden habe, daran vermag sie sich später nicht mehr zu erinnern. Nur, dass man sich langsam immer mehr auseinandergelebt habe und schließlich jeder seiner eigenen Wege gegangen sei.
Schon vor der einvernehmlichen Scheidung 1978 lernt die inzwischen 24-jährige ihren dritten Ehemann kennen: Ralf Löblich, einen Bekannten von Hans-Jürgen Rösner.
Ralf Löblich ist das genaue Gegenteil zu ihrem letzten Ehemann. Zum Arbeiten hat er keine Lust. Manchmal fährt er Taxi oder nimmt Gelegenheitsjobs an. Ansonsten lebt er in den Tag hinein und hängt in Kneipen herum. Aber für die junge Frau ist er „der Größte“. „Lieb und zärtlich“, wie sie später sagt. „Meine erste große Liebe.“ Dass er auch „krankhaft eifersüchtig“ ist, bestärkt sie nur in diesem Gefühl. Und auch die Tatsache, dass er vorbestraft ist, kann sie nicht von ihm fernhalten.
Schon ein Jahr später ist sie auch von diesem Mann schwanger. 1980 geht sie mit ihm ihre dritte Ehe ein. Im selben Jahr kommt ihr drittes Kind, Sohn Pierre, zu Welt. Und wieder wird auch diese Ehe in die Brüche gehen.
Die Gaststätte, die Marion Löblich in Gladbeck zwischenzeitlich übernommen hat, muss sie wegen der Schwangerschaft aufgeben. Doch ihr 19-Stunden-Tag dort wird auch nach der Geburt nicht kürzer. Tagsüber muss sie arbeiten und zwischendurch die Kinder versorgen, am Abend Taxi fahren, weil ihr Mann sein Geld lieber für sich ausgibt, als es nach Hause zu bringen. Eine Situation, die schließlich nicht nur sie, sondern auch ihre beiden Töchter überfordert.
Beide Kinder kommen von Anfang an nicht klar mit dem neuen „Vater“, beide leiden unter den wachsenden Spannungen, die sich zwischen ihren Eltern aufbauen, nachdem Ralf Löblich eine Affäre mit einer anderen Frau eingegangen ist, mit der Telefonistin in der Taxizentrale, die seiner Frau per Funk ihre Fahrten vermittelt. „Da war ich am Ende“, schildert Marion Löblich später ihrem Gutachter. „Danach war bei mir nur noch Misstrauen.“
Die Ehe schleppt sich von nun an nur noch vor sich hin. Auch wenn es danach „noch ein paar schöne Tage“ gegeben habe. Und die Kinder spüren das. Leila muss schließlich in die Sonderschule und später in ein Kinderheim. Bei Nicole nehmen die psychischen Störungen so zu, dass sie immer öfter auch in stationäre psychiatrische Behandlung muss. Als die Ärzte Marion Löblich klarmachen, dass die Ursachen dafür hauptsächlich bei ihrem Mann und ihrer zerrütteten Beziehung zu ihm zu suchen sind, denkt sie zum ersten Mal an Scheidung.