Ines Voitle war zum Zeitpunkt der Geiselnahme von Gladbeck 18 Jahre alt, eine junge Auszubildende. Sie saß mit ihrer Freundin Silke Bischoff in dem Linienbus in Bremen, den die Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski vor 30 Jahren in ihre Gewalt brachten. Wie lebt sie mit der Erinnerung?

Frau Voitle, hat sich in all den Jahren irgendjemand mal bei Ihnen gemeldet, um sich zu entschuldigen?
Nein, aber das kommt jetzt. Der Bremer Senat trifft sich mit mir und will hören, wie es mir geht. Besser spät als nie. Ansonsten hat mich nur die Stadt Gladbeck noch eingeladen.

Hat die Polizei Sie jemals kontaktiert?
Nein. Ich wurde damals ganz alleingelassen. Also wirklich komplett alleine.

Das Geiseldrama begann für Sie in Bremen in einem Linienbus. Hatten Sie zuvor vom Banküberfall in Gladbeck gehört?
Nein. Ich war damals 18 Jahre. Da hat man noch nicht so das Interesse an Nachrichten und Politik. Ich wusste davon gar nichts. Erst dachte ich auch, das sei ein schlechter Film. Vielleicht drehen die da irgendwas. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das alles echt ist.

Wie haben Sie den Zeitpunkt erlebt, als der Bus gekidnappt wurde?
Ich habe mit Silke zusammengesessen, und wir haben in der Bravo geblättert und uns darüber unterhalten, was wir machen wollen abends. Wir wollten noch einen Film gucken, haben uns noch ein bisschen über unsere Freunde unterhalten und auf einmal sagte unser Busfahrer: ‚Ich lasse die hier nicht rein. Ich mache das nicht mit. Ich fahre hier nicht weg.‘ Dann ist er abgehauen. Er hatte wohl mitbekommen, dass etwas los war. Dann kam ein Ersatzfahrer. Der saß dann da. Die Linie 51 ist losgefahren und hat uns überholt. Und wir standen da immer noch. Irgendwann kam ein Wagen angefahren. Und dann kamen vier Leute zu Fuß und haben an die Fahrertür geklopft – mit Pistolen in der Hand. Der Ersatzfahrer hat dann die Tür aufgemacht.

Was danach geschah, bleibt schwer verständlich. Die Polizei griff nicht ein, aber die Presse belagerte den Bus. Wie haben Sie das empfunden?
Aufdringlich und nervig. Da bin ich ehrlich. Auch die Fotos, die sie im Bus von uns gemacht haben: Man wurde präsentiert, einfach abgelichtet, keiner hat einen gefragt.

Ein Journalist hat dann sogar als Vermittler fungiert zwischen Polizei und Geiselnehmern. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ich dachte: Was will der immer hier? Was hat der im Bus zu suchen? Ich habe zwar gemerkt, dass er versucht hat, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen und zu vermitteln. Dennoch hat er mich genervt. Ich habe mich gewundert, wie man ständig ein- und ausgehen kann im Bus. Er sieht doch die beiden mit der Waffe. Das war alles wie im falschen Film. Irrsinnig. Alles war durcheinander.

Was waren die größten Fehler der Polizei?
Allein schon, dass die in Bremen-Huckelriede durchgekommen oder aus der Bank rausgekommen sind. Das wäre heute gar nicht mehr drin. Keine Zugriffe beim Einkaufen, beim Essengehen. Dann immer wieder die Frage, welche Polizei jetzt zuständig ist, das Nicht-miteinander-Kooperieren.

Es folgte eine Irrfahrt durch Deutschland in einem Auto, das die Gangster im Austausch für den Bus bekommen hatten. Sie und Ihre Freundin mussten mit und landeten schließlich in Köln. Wurde in dieser Zeit viel gesprochen?
Silke und ich haben nicht viel geredet. Ab und zu wurden wir gefragt, ob wir etwas zu essen oder trinken benötigten. Sonst waren wir aber die ganze Zeit still. Die drei Gangster haben sich natürlich unterhalten, auch über alte Zeiten, wie die sich kennengelernt haben.

In Köln wurden Sie dann von Reportern umringt und interviewt.
Ja. Ich konnte es dann auch schnell nicht mehr hören: „Wie geht es Ihnen? Haben Sie Angst?“ Wie soll es einem da drin schon gehen? Ich wollte einfach raus da – oder, dass wir weiterfahren. Es war extrem warm in dem Auto. Es roch nach Schweiß. Degowski war extrem nervös, entsicherte immer wieder seine Waffe: klick, klack, klick, klack.

Hat sich seitdem Ihr Blick auf Journalisten verändert?
Sagen wir es so: Ich weiß, dass es ihr Job ist. Aber die Menschenwürde war nicht mehr da. Sie waren alle sensationsgeil. Ich fühlte mich wie ein Schlachtvieh.

Beim Zugriff auf der Autobahn bei Bad Honnef wurden Sie am Rücken verletzt, Silke Bischoff starb.  Im Urteil heißt es, der Schuss auf Silke sei eindeutig aus der Waffe von Rösner gekommen. Glauben Sie das?
Ich glaube nicht daran. Ich denke eher, dass es, wie bei mir auch, eine Kugel von draußen war. Ich bin  überzeugt: Die Polizei hat Silke erschossen. Er hätte es nicht gewagt, Silke zu erschießen.

Welche Dinge aus den Tagen im August 1988 sind hängen geblieben?
Die Bilder und Fotos, die im Umlauf waren. Gerüche von Schweiß, Blut und Urin aus dem Bus. Die lassen mich heute noch erschaudern und versetzen mich immer noch in Panik. Und die Schüsse klingen noch im Ohr. Silvester war lange die Hölle für mich. Wenn nur eine Tür zuknallte, war es die Hölle.

Was machen Sie in diesen drei Tagen zwischen dem 16. und 18. August 30 Jahre danach?
Gar nichts. Kein Fernsehen gucken, nicht ans Telefon gehen.

 

Hier geht es zur Multimedia-Dokumentation des RedaktionsNetzwerks Deutschland zu „30 Jahren Geiseldrama von Gladbeck“