Rudolf Esders, Vorsitzender der II. Großen Strafkammer am Landgericht Essen, ist 52 Jahre alt und ein erfahrener Richter, als er am 21. März 1991 den Prozess gegen die Geiselgangster von Gladbeck eröffnet. Mehr als einmal hat er schon in schlimmste menschliche Abgründe geschaut. Aber noch nie stand er so im Scheinwerferlicht. Ein ganzes Land will jetzt Vergeltung für die toten Geiseln. Doch seine Aufgabe ist es, nicht zu rächen, sondern sachlich und gerecht zu urteilen – und die Balance zu halten zwischen zwei Lagern, die sich von Anfang an aggressiv gegenüberstehen: auf der einen Seite die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger, die mit den Angeklagten am liebsten kurzen Prozess machen wollen. Auf der anderen Seite die Verteidigung mit dem gewieften Münchner Staranwalt Rolf Bossi an der Spitze, die nur darauf lauert, dass dem Richter ein Verfahrensfehler unterläuft.
Schon der kleinste Formfehler kann dazu führen, dass der Prozess platzt oder neu aufgerollt werden muss. „Dann hätten die mich in der Kantine nicht mehr angeschaut“, sagt Rudolf Esders heute. Dass es nicht dazu kommt, hat er auch seiner akribischen Vorbereitung auf die Verhandlung zu verdanken: Auch die kleinste Aktennotiz hat er gelesen, sich alle verfügbaren Tonbänder mit den mitgeschnitten Gesprächen im Fluchtauto persönlich angehört. Selbst auf einem Schießstand der Essener Polizei ist er gewesen, um sich persönlich einen Eindruck zu machen, wie schnell sich ein Schuss aus einer Waffe lösen kann.
Herr Esders, welchen Eindruck haben Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski während der mehr als 100 Prozesstage auf Sie gemacht?
Also ich fand, dass Rösner der offenere war, der auch zu seiner Tat stand. Mit Ausnahme des Vorwurfs, der ihm gemacht wurde, er habe Silke Bischoff erschossen. Den wies er von sich. Während Degowski in Abrede stellte, überhaupt wissentlich auf Emanuele de Giorgi geschossen zu haben. Obwohl er nach seinen Äußerungen nach dem Tode Emanueles einigermaßen eingeräumt hatte, das getan zu haben. Zum Beispiel hat er gegenüber Marion Löblich gesagt: „Das habe ich für dich getan.“ Unter anderem. Rösner war auch stolz darauf, dass er nun im Mittelpunkt des Prozesses stand.
Inwieweit spielte die Lebensgeschichte der beiden bei der Beurteilung der Tat eine Rolle?
Beide waren Schulkameraden in einer Sonderschule. Vielleicht gehörte Degowski dahin, aber Rösner nicht. Ich habe später Briefe kontrollieren müssen. Rösner hatte die mit einer Schreibmaschine geschrieben. Grammatikalisch und rechtschreiblich völlig in Ordnung. Der Stil war auch in Ordnung, der gehörte niemals auf eine Sonderschule. Aber das ist möglicherweise dadurch gekommen, dass er schwer erziehbar war. Und sein Elternhaus hat sicherlich dazu beigetragen.
In welchem Verhältnis standen die beiden zueinander?
Ich glaube nicht, dass die beiden voneinander abhängig waren. Degowski eher von Rösner, aber nicht umgekehrt. Degowski war jemand, der introvertierter war und Rösner bewunderte. Weil Rösner ja auch derjenige war, der im Vordergrund stehen wollte, völlig extrovertiert. Aber Degowski war auch von seinem Intelligenzstatus her Rösner völlig unterlegen.
Wie konnten aus zwei Kleinkriminellen Kapitalverbrecher werden?
Rösner befand sich auf der Flucht. Er hatte Hafturlaub bekommen und war nicht wieder in die Anstalt zurückgekehrt, hatte sich bei Frau Löblich geschickt in einem begehbaren Kleiderschrank versteckt für den Fall, dass die Polizei kommt. Und aus der Situation heraus sah er sich gezwungen, Geld zu beschaffen. Das hat er zunächst durch kleinere Sachen gemacht. Aber die wurden immer größer bis hin zu Bankräubereien. Er scheute sich auch nicht, einige Beraubte zum wiederholten Male zu berauben. Dabei half ihm erst später Degowski, nicht von Anfang an. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass Rösner eine Abhängigkeit gegenüber Degowski spürte. Im Gegenteil. Er missbilligte das, ohne immer ganz laut zu sein. Er missbilligte diesen Einsatz von Degowski in Grundbergsee. Er war ziemlich erschüttert davon.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Degowski an der Raststätte Grundbergsee durchgedreht ist?
Ich habe zwei Erklärungen, die müssen aber nicht zutreffen und auch nicht vollständig sein. Die eine ist, dass er Frau Löblich sehr mochte, um es mal milde auszudrücken. Deshalb sagte er später auch: „Das hab ich für dich getan.“ Er wollte seine Zugehörigkeit zu ihr unter Beweis stellen. Die andere Seite ist, dass er sich möglicherweise durch das vorangegangene Interview von Radio Bremen genötigt sah zu handeln. Denn man hatte Silke Bischoff vor der Raststätte gefragt, wie sie sich fühle. Und sie sagte: „Gut.“ Und Degowski kommentierte das mit „zu jung“. Sie sei zu jung, um es zu begreifen. Und dann kam die Frage: „Würden Sie denn wirklich auf eine Geisel schießen?“ Ja, was soll er sagen? Soll er Nein sagen? Dann wäre er sein Drohpotenzial los. Also sagte er: „Ja.“ Und nun kam die Situation – und er war sozusagen im Wort…
… und erschießt einen 14-jährigen italienischen Jungen aus nächster Nähe.
Ja. Weniger als zehn Zentimeter Entfernung zwischen Kopf und Mündung der Waffe.
Ist es ein Zitat von Degowski, er sehe gern Gehirn spritzen, oder eine Erfindung von Journalisten?
Nein, nein. Das haben wir festgestellt.