Die beiden Männer, die an diesem Morgen aus dem Hochhaus Berliner Straße 14 in Gladbeck treten, tragen blaue Overalls. Sie sehen aus wie zwei Monteure auf dem Weg zur Arbeit. Doch unter ihren Blaumännern verbergen sie Waffen.

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Im Gürtel des einen steckt eine Selbstladepistole Modell Colt Government, Kaliber neun Millimeter Luger, unter dem Hosenbund des anderen ein Trommelrevolver, Typ Highway Patrolman, Kaliber .357 Magnum. Und in der grauen Plastiktasche, die sie dabeihaben, befinden sich 350 Schuss Munition.

 

 

Es ist Dienstag, der 16. August 1988, Viertel nach sieben. Die Republik erwacht mit Nachrichten über einen Hormonskandal in deutschen Mastbetrieben, mit Meldungen über streikende Bergarbeiter in Polen und Berichten über den Präsidentschaftswahlkampf in den USA zwischen dem Demokraten Michael Dukakis und dem Republikaner George Bush. Der Wetterbericht sagt einen weiteren heißen Tag vorher mit schwülen hochsommerlichen Temperaturen. Niemand in Deutschland ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass in den nächsten 54 Stunden nur noch ein Thema die Nachrichten beherrschen wird. Ein Verbrechen, das sich als das „Geiseldrama von Gladbeck“ ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Nation einbrennen wird. Monströs und bizarr. Grausam und abstoßend – und doch von einer furchtbaren Faszination, die bis heute anhält. Eine Tat, die als Provinzbankraub beginnt und sich zu einem Kapitalverbrechen auswächst, das es so in der deutschen Kriminalgeschichte zuvor noch nie gegeben hat.

Über Gladbeck, der alten Kohlestadt im Ruhrgebiet, wölbt sich an diesem Morgen ein strahlend blauer Himmel. Die beiden Männer ziehen sich schwarze Masken mit Augenschlitzen über die Gesichter und steigen auf eine rote Honda 250, ein Motorrad, das sie zwei Tage zuvor gestohlen haben. Sie wollen zu einer Filiale der Deutschen Bank in der Schwechater Straße, nur ein paar Hundert Meter entfernt gelegen in einer tristen Ladenzeile aus Beton und rotbraunen Klinkern im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord. Die zwei Männer sind vorbestraft: Kellereinbrüche, geklaute Autos, Raubüberfälle und auch ein paar Körperverletzungen. Immer wieder müssen sie dafür ins Gefängnis. Aber im Grunde genommen sind sie Hühnerdiebe, Kleinkriminelle also, die seit Jahren ihr Leben zwischen Trinkhallen und Knast fristen. Unstrukturiert, zu keinem großen Coup fähig und nicht gerade mit übermäßiger Intelligenz gesegnet.

Und so ist auch der Plan, den sie jetzt in die Tat umsetzen wollen, eher eine Schnapsidee. Geboren im Rausch von Dosenbier und Vesparax-Schlaftabletten, einem Cocktail, der die Wirkung der Schlaftabletten genau ins Gegenteil verkehrt und mit dem sie sich schon seit Monaten aufputschen. Rein in die Bank, Tresor ausräumen und ruck, zuck wieder raus – in ein neues, sorgenfreies Leben. Weiter denken können sie nicht.

Doch schon nach wenigen Metern fliegen die Maskierten aus der ersten Kurve. Das Motorrad kippt um, der Sozius schlägt sich das Knie auf. Das erste Fiasko in einer Kette aus Pannen und fast schon irrwitzigen Zufällen, die von nun an das Geschehen bestimmen sollen.

Es ist Zufall, dass Ali Kemmuna (53) an diesem Morgen verschläft. Eigentlich passiert ihm das nie, dem aus dem Irak stammenden Arzt, der unweit der Bank seine Praxis hat. Und so steuert er mit 20 Minuten Verspätung kurz vor acht seinen roten Mercedes auf den für ihn reservierten Parkplatz hinter der Bank. Ein Zufall, dass er genau in dem Moment am Eingang der Bank vorbeikommt, als die vermummten Gangster hinter der rückwärtigen Glasfront der Filiale den Kassierer Reinhold A. (35) mit einer „großen Pistole im Genick“ auf die Knie zwingen, um die Innentür der Schalterhalle zu verriegeln.

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