Die Ziffer elf des Pressekodex wurde nach Gladbeck geändert. Seitdem heißt es dort: Die Presse „unternimmt keine eigenmächtigen Vermittlungsversuche zwischen Verbrechern und Polizei. Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben.“ Haben sich die Medien danach daran gehalten?

Soweit ich das beurteilen kann, ja. Zumindest im Großen und Ganzen. Gladbeck ist für die Medien eine Zäsur geworden. Mir ist nach Gladbeck kein vergleichbarer Fall bekannt, in dem Journalisten so vehement ihre Grenzen überschritten hätten.

Könnte sich das Medienversagen während des Geiseldramas also nicht wiederholen?

In dieser Form nicht. Polizei und Medien haben ihre Lektionen gelernt. Nie wieder wird die Polizei Gangstern und Medien solche Freiräume geben wie in Gladbeck. Heute wäre die Bank schon nach Minuten so großräumig abgesperrt, dass kein Reporter so nah wie damals herankommen kann. Und selbst wenn es gelänge – in den Redaktionen würde heute viel kritischer geprüft werden, welches Material man wirklich nutzen würde und welches nicht.

Also ist der Voyeurismus der Medien zurückgegangen?

Ja, jedenfalls geben die klassischen Medien dem Drang nach dem voyeuristischen Bild nicht mehr so hemmungslos nach. Der Voyeurismus insgesamt ist damit nicht verschwunden. Aber für die Verbreitung von Sensationsbildern braucht man die klassischen Medien auch nicht mehr. Die spektakulären Bilder und Filme werden heute ohne jeden Filter auf Twitter und in anderen neuen Medien verbreitet. Die Rösners und Degowskis von heute brauchen klassische Medien nicht mehr. Die machen Selfies und ihre eigene Liveübertragung, um sich selbst zu inszenieren und Druck auf die Polizei auszuüben. Und während ihre Fotos und Videos mit einem Klick in Sekunden millionenfach geteilt werden, überlegt man bei der „Tagesschau“ noch, ob man die Bilder senden darf oder die Gesichter verpixeln muss. Das ist die Kehrseite der neuen Medienwelt.

Braucht es 30 Jahre nach Gladbeck also eine neue Ethikdebatte über den Umgang mit Bildern von Katastrophen?

Absolut. Die klassischen Medien haben viel gelernt nach Gladbeck. Und dennoch ist man heute näher und ungefilterter an Großereignissen dran als damals. Es ist kurios und tragisch. Wir sollten deshalb darüber reden, dass sich auch die neuen Medien mit ethischen Fragen auseinandersetzen müssen und sich Richtlinien für die eigene Arbeit setzen. Das ist bisher noch nicht geschehen.

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