Von Anfang an war das Geiseldrama von Gladbeck überschattet von Fehlern der Polizei. Immer wieder ging ihre Taktik nicht auf. Immer wieder verpasste sie auch beste Gelegenheiten, einzugreifen und die Geiselnahme vorzeitig zu beenden. Viele Jahre beschäftigten sich zwei Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bremen und Nordrhein-Westfalen mit der Frage, ob es wirklich dazu hätte kommen müssen, dass am Ende zwei Geiseln ihr Leben verloren.

Die Antwort kann nur Ja lauten. Denn das eigentliche Versagen der Polizei setzt lange vor dem Verbrechen ein, dass Deutschland drei Tage in Atem halten wird:

Als Hans-Jürgen Rösner am Morgen des 16. August 1988 zusammen mit seinem Komplizen Dieter Degowski die Deutsche Bank in Gladbeck überfällt, ist er fast auf den Tag genau zwei Jahre auf der Flucht. Aus einem Hafturlaub ist er im August 1986 nicht mehr zurück ins Gefängnis gekehrt und wird seitdem von der Polizei gesucht.

Ihn festzunehmen müsste eigentlich ein Kinderspiel sein. Denn Rösner ist nicht etwa ins Ausland geflohen oder sonst wo untergetaucht, sondern hält sich mitten in seiner Heimatstadt Gladbeck auf, wo er schon allein wegen seiner grellen Tätowierungen bekannt ist wie ein bunter Hund.

Die Fahndung nach Rösner wird der Kreispolizeibehörde Recklinghausen übertragen. Doch weil die Fahndungsabteilung dort unterbesetzt ist, wird die Vollstreckung des Haftbefehls mit dem Aktenzeichen 46 VRs 118/85 der Polizei in Gladbeck überlassen.

Dort meldet sich schon nach sechs Wochen ein ehemaliger Mithäftling Rösners und zeigt an, Rösner wolle aus Rache einen Polizeibeamten erschießen und habe sich dafür schon einen Armeerevolver besorgt. Vorsichtshalber wird deshalb der Empfangsbereich der Polizeiwache mit einer schussfesten Glasscheibe gesichert und der Hintereingang mit einer Wechselsprechanlage. Im Revier selbst pinnen die Beamten ein Foto Rösners an die Wand.

Ihre Nachforschungen nach dem Gewaltverbrecher bleiben eher dürftig: Von Rösners Schwester Renate lassen sie sich mit der Lüge abspeisen, dass sie „keine Ahnung“ habe, wo ihr Bruder sei. Das Gleiche passiert bei seinen Eltern.

Spätestens seit Anfang 1987 jedoch weiß die Polizei sicher, dass Rösner in Gladbeck ist. Am 29. Januar ruft seine Ex-Frau sie zu Hilfe, weil ihr geschiedener Mann versucht habe, gewaltsam bei ihr in die Wohnung einzudringen. Als die Polizei dort eintrifft, ist Rösner jedoch wieder weg.

Eigentlich müsste er jetzt gewarnt sein. Doch wie seine nächtlichen Raubzüge wird auch sein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei immer dreister. So dreist, dass er sich sogar unter richtigem Namen mehrmals für Wochen in Gladbeck und in Essen ins Krankenhaus legt, um sich wegen eines alten Bandscheibenleidens behandeln zu lassen.

Rösner gibt sich dort als Privatpatient und „Freiberufler“ aus. Als Adresse gibt er die Anschrift seiner Eltern an. Erst als bei denen die ersten Krankenhausrechnungen (insgesamt fast 14.000 Mark) eingehen, offenbart er den Ärzten seinen wahren Hintergrund. Handschriftlich teilt er ihnen mit, dass für die Behandlungskosten die Justizvollzugsanstalt Willich aufkommen müsse, „denn ich bin heute noch Staatseigentum der Justiz und muss daher auch versichert sein“.

Die Polizei bekommt von alldem offenbar nichts mit. Ihre Bemühungen, Rösner zu verhaften, halten sich auch die nächsten Monate in Grenzen. Selbst nachdem der Polizei gesteckt wird, dass Rösner sich wieder mit seinem alten Komplizen Degowski herumtreibe, bringt das den Fahndungsapparat nicht auf Touren. Wie schon vorher lassen sich die Polizisten auch von Degowski belügen mit dem Hinweis, er habe Rösner lediglich einmal getroffen und vermute ihn bei irgendeinem Mithäftling in Essen.

Schließlich ist es der neue Freund von Rösners Ex-Frau, der die Polizei auf die richtige Spur setzt. Als Rösner wieder einmal bei seiner geschiedenen Frau randaliert und ihn mit einer Waffe bedroht, gibt er der Polizei den Tipp, doch einmal „bei der Marion Löblich“ nachzusehen.

Spätestens jetzt hätte Rösner sofort verhaftet werden müssen. Doch bei der Polizei in Gladbeck geht alles seinen geregelten Gang. Erst einmal muss das Hochhaus, in dem Marion Löblich lebt, ermittelt und inspiziert sowie der Hausmeister befragt werden. Dann ist auch schon Wochenende und danach erst einmal ein seit längerer Zeit geplanter Einsatz im nahe gelegenen Haltern angesetzt. Aber am Dienstagmorgen, da ginge es. Am Dienstag, dem 16. August 1988…

„Wenn wir natürlich geahnt hätten, dass Herr Rösner am 16. August diese Tat begehen würde“, wird der leitende Kriminaldirektor Friedhelm Meise aus dem Polizeipräsidium Recklinghausen später vor dem Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags aussagen, dann „wären größere Anstrengungen unternommen worden.“