Was sie dort sehen, löst in der Einsatzzentrale am Waidmarkt Entsetzen aus: Immer mehr Reporter, Fotografen und Kamerateams drängen sich um das Fluchtauto in der Fußgängerzone und kämpfen um die besten Plätze für Fotos und Interviews. Darunter ist auch Frank Plasberg, der spätere WDR-Moderator – und Udo Röbel, der hartnäckig seinen Platz in der ersten Reihe verteidigt und direkt vor der Fahrertür in die Hocke gegangen ist, keinen halben Meter entfernt von Hans-Jürgen Rösner.
Schürmann und Behrend gelingt es trotzdem, sich durch den Pulk der Journalisten bis direkt an den BMW vorzuarbeiten. Als Fotograf getarnt, steckt der SEK-Chef sogar seinen Kopf durch eines der heruntergelassenen Autofenster, um so viele Details wie möglich von der Situation vor Ort zu erfassen. „Beide Täter haben die Waffe in der Hand. Finger am Abzug, die Hähne vorgespannt“, meldet er der Einsatzleitung.
Behrend und Schürmann ist sofort klar, dass ein Zugriff an dieser Stelle nur in einem Blutbad enden kann. Wenn überhaupt, müssten Rösner (vorn am Steuer) und Degowski, der zwischen den Geiseln auf der Rückbank sitzt, gleichzeitig ausgeschaltet werden. Auf die Sekunde und punktgenau. Ohne dass sie noch die Möglichkeit haben, selbst abzudrücken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Nahkämpfer der Spezialeinheiten mit einer besonders tückischen Munition ausgerüstet sind: mit Neun-Millimeter-Vollmantelpatronen, die die Eigenschaft haben, den menschlichen Körper mühelos zu durchdringen. Bei so hoher Durchschlagskraft können so mit einer einzigen Kugel auch andere in der Nähe befindliche Personen getroffen werden.
Behrend, der befürchtet, dass die Gangster auch ohne Polizeieinsatz schon eine „Schattenbewegung“ als Angriff verstehen könnten, rät dringend von einem Zugriff in der Einkaufsstraße ab. „Ich denke, dort hätte es fünf, sechs oder noch mehr Tote geben können“, wird er später sagen. Degowski wirkt auf beide Spezialisten der Polizei fremd und bedrohlich, Rösner wird ihn später „teuflisch“ nennen.
Kriminaldirektor Armin Mätzler will trotzdem zuschlagen. Auf Nachfrage seiner überraschten Beamten vor Ort erklärt er ihnen, dass letztlich auch ein „Lebensrisiko für die Geiseln“ hinzunehmen sei – und gibt dem SEK Weisung, sich bereit zu machen für den Zugriff.
Die Situation in der Fußgängerzone spitzt sich immer mehr zu. Das Geiselauto wird inzwischen nicht nur von Journalisten, sondern auch von immer mehr Schaulustigen belagert, die sich selbst von Polizeiabsperrungen im Hintergrund nicht aufhalten lassen. Alle wollen aus nächster Nähe sehen, wie Degowski seiner Geisel Silke Bischoff den Revolver an den Hals hält.
Das junge Mädchen aus Bremen hat Todesangst. Seit es mitansehen musste, wie Degowski an der Raststätte Grundbergsee den 15-jährigen Emanuele De Giorgi erschoss, weiß sie, dass auch ihr Leben an einem seidenen Faden hängt. Tapfer bittet sie in einem Interview die Polizei, „nicht wieder dazwischenzufunken“.
Geisel Ines Voitle: „Die Menschenwürde war nicht mehr groß da“
Auch Udo Röbel hat das mitbekommen. Er sieht, dass Silke Bischoff am Ende ihrer Kräfte ist. „Und irgendwann erwachte in mir dann auch wieder der Mensch Udo Röbel“, erinnert sich Röbel. „Immer wieder habe ich mich gefragt, wie man das Mädchen aus seiner Situation erlösen könnte.“
Röbel fällt nichts anderes ein, als Rösner zu fragen, ob er denn eine Austauschgeisel für Silke Bischof und Ines Voitle akzeptieren würde. Zu seiner Überraschung ist Rösner nicht abgeneigt.
„Wen denn?“, fragt er.
„Den Bischof Hengsbach?“, schlägt Röbel vor.
Rösner lässt sich auf den Vorschlag ein. Doch der Ruhrbischof weilt zu diesem Zeitpunkt zur Kur in Bad Wörishofen. Andere Reporter schlagen deshalb nun die Kölner Weihbischöfe Herbert Luthe und Walter Jansen als Ersatzgeiseln vor.
Und auch diesen Vorschlag akzeptiert Rösner.
Für Kriminaldirektor Mätzler ist das der erste Glücksfall an diesem Morgen. Wenn Rösner wirklich den Austausch vollzieht und die beiden Geiseln das Auto verlassen, wäre es um ein Vielfaches leichter und risikoärmer, ihn und Degowski durch als Bischöfe getarnte Polizisten überwältigen zu lassen.
Doch wieder einmal durchkreuzt Rösner die Pläne der Polizei: Vor dem Austausch will er Fotos von den Geistlichen vorgelegt bekommen, um sicherzugehen, dass ihm nicht falsche Priester untergeschoben werden.
Mätzler muss zurück zu seinem ursprünglichen Plan. Schürmann und seine Nahkämpfer sollen sich getarnt als Reporter, Fotografen oder Kameramänner an das Auto schleichen und im richtigen Moment abdrücken. Doch Mätzler beginnt die Zeit durch die Finger zu rinnen. Die Traube von Menschen rund um das Geiselauto ist schon auf zahlreiche Personen angewachsen. Die Situation vor Ort wird von Minute zu Minute chaotischer. „Der hinten drin fängt langsam an auszuticken“, funkt ein Beamter in die Einsatzzentrale.
Auch mit Rösners zur Schau gestellter Gelassenheit ist es plötzlich vorbei. Als er auch noch durch Reporter mitbekommt, dass in den Seitenstraßen die ersten Notarztwagen auffahren, wird ihm klar, dass die Polizei diesmal wirklich stürmen will. Sie müssen weg von hier! Sofort weg! Und als Erstes braucht er wieder freies Sichtfeld.