Und so kehren die Gangster, nachdem Gepäck und Geiseln verstaut sind, zur Esso-Tankstelle an der Horster Straße zurück. Rösner hofft, dort einen Wagen zu finden, der gerade betankt wird. Er sieht einen Ford Capri und geht mit der Pistole in der Hand auf den Fahrer zu. Als der ihm erklärt, er brauche den Wagen am nächsten Morgen unbedingt, lässt Rösner von ihm ab.

Doch nur einen Augenblick später passiert etwas Unfassbares, eine weitere folgenschwere Polizeipanne, über die später die ganze Nation fassungslos den Kopf schüttelt. Weil die Einsatzleitung falsche Funkkanäle benutzt, fährt der ahnungslose Polizeiobermeister Hans-Peter D. mit seinem Dienstwagen auf dem Rückweg vom Bankraubeinsatz in die offenen Arme der Geiselgangster. Er will volltanken, um zurück in seine Heimatstadt Bielefeld zu fahren, als ihn Rösner als Polizisten erkennt. Mit vorgehaltener Waffe nimmt er dem Beamten die Dienstwaffe P6 und das Reservemagazin ab: „Leg ab, ich hab einen Ballermann!“, ruft Rösner. Vom Rücksitz aus schnappt er sich das Funkgerät des Beamten. Ein anderer Fahrer muss Rösner seinen Gürtel geben, mit dem sich der Gangster die erbeutete Waffe um den Körper schnallt.

Für die Polizei wird das entwendete Funkgerät zum Desaster. Von nun an ist es den Beamten nicht mehr möglich, über das gewohnte Zwei-Meter-Band miteinander zu sprechen, ohne dass die Gangster mithören können. Die Kommunikationsstrategie zwischen den unterschiedlichen Einsatzkommandos und der Leitzentrale in Gladbeck stürzt ins Chaos.

Unbemerkt von Rösner steuert in der Zwischenzeit ein Polizeibeamter in Zivil einen präparierten Mercedes 230 auf das Tankstellengelände – und Rösner beißt an. Er packt Vorräte und Waffen in den als Köder ausgelegten Wagen. Doch dann stutzt er: In aller Hektik hat die Polizei vergessen, den Wagen mit Gebrauchsspuren zu versehen. Das Auto ist völlig leer, im Handschuhfach finden sich keinerlei persönliche Gegenstände, und so schöpft Rösner sofort wieder Verdacht, auch dieser Fluchtwagen könne von der Polizei stammen. Vergeblich sucht er nach eingebauten Impulsgebern und Mikrofonen.

Er entschließt sich dennoch, den Wagen wenigstens vorübergehend zu behalten. Wieder agiert Rösner so, wie es in keinem Polizeilehrbuch und in keiner Dienstanweisung für Geiselnahmen steht. Statt schleunigst die Stadt zu verlassen, steuert er mit dem Fluchtwagen die Wohnung seiner Schwester Renate an. Er weiß, dass sich seine Freundin, Marion Löbich, inzwischen dort aufhält. Die Fahnder tappen völlig im Dunkeln, als Rösner unbemerkt gegen ein Uhr nachts seine Freundin mit ins Fluchtauto nimmt. Seine Freundin folgt ihrem Geliebten ohne Widerworte, obwohl sie aus dem Fernsehen weiß, dass Rösner seit Stunden dabei ist, sein „ganz großes Ding“ zu drehen. Auch Löblich hat sich den ganzen Tag mit Pillen und Bier vollgedröhnt. Sie ist enttäuscht von Renate, weil Rösners Schwester ihr keinen Unterschlupf mehr gewähren will und sie ermutigt, mit ins Auto zu steigen. Betäubt und frustriert gibt Löblich nach. Es ist der Moment, der ihr später eine Anklage wegen gemeinschaftlichen Mordes und ihrer Tochter Nicole ein Leben ohne Mutter einbringen wird.

Immer noch ist Degowski maskiert. Als ihm Löblich sagt, auch er sei inzwischen von der Polizei identifiziert, legt er die Gesichtsmaske ab. Der Wagen fährt los in die Nacht Richtung Nordwesten – ohne festes Ziel.

Zunehmend zeigt sich, dass Rösner, der Kopf der Gangsterbande, keinen Plan hat. Mal überlegt er, Marion bei einer früheren Schwägerin in Münster aussteigen zu lassen. Doch als er beim Fahren immer unsicherer wird, übernimmt seine Geliebte das Steuer. Dann kommt er auf die Idee, sich ins Ausland abzusetzen. Doch dazu müsste er wenigstens eine Fremdsprache beherrschen. Doch Rösners Horizont beschränkt sich auf Gladbecker Spielkasinos, Kneipen und den Knast. Nicht einmal im Ruhrpott kennt er sich richtig aus. Er verwirft die Idee.

Trotz der Planlosigkeit der Gangster halten die Fahnder beharrlich an ihrer Theorie fest, dass die Geiseln irgendwann freigelassen werden. Immer wieder lassen die Täter die Geiseln mit der Polizei telefonieren und bitten, die Beamten mögen endlich abziehen. Doch die befolgen hartnäckig den Befehl der Einsatzleitung in Gladbeck, das Fluchtauto „an der langen Leine“ zu verfolgen. Um 1.20 Uhr ergeht der Befehl an ein Mobiles Einsatzkommando (MEK), Rösner und Degowski „abgesetzt zu folgen“. Bis heute ist unklar, ob es in dieser Nacht der Polizei wirklich gelingt, den Geiselnehmern auf der Spur zu bleiben, ohne dass das Trio von der Beschattung etwas mitbekommt. NRW-Innenminister Schnoor wird später aussagen, es habe nie Sichtkontakt gegeben.Tatsächlich fühlen sich die Gangster zumindest eine Stunde lang sicher. Degowski führt um 2 Uhr nachts aus Osnabrück ein längeres Telefongespräch. Doch dann wachsen die Zweifel wieder. Mit jedem Auto, das sich nähert, werden Rösner und Degowski aggressiver und gereizter. Rösner hat das Gefühl, „unauffällig“ verfolgt zu werden. Schlafmangel und Stress setzen den Tätern zu. Die Verfolgungsangst der Gangster lässt bei den Geiseln zunehmend die Zuversicht schwinden, rasch auf freien Fuß zu kommen. Ohne Ziel irren die Gangst

er über die Autobahnen. „Wir fuhren planlos in der Gegend rum“, sagt Löblich später. Rösner zwingt die Geisel A., bei seiner schwangeren Frau anzurufen. Sie soll die Polizei beknien, dass „endlich die Verfolgung abgebrochen wird“.

Mit ihrer Irrfahrt versetzen Rösner und Degowski die Polizei in ganz Deutschland in Alarmbereitschaft. Das Düsseldorfer Innenministerium verschickt rund um die Uhr Fernschreiben an Interpol, das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter, alle größeren Polizeidienststellen und Spezialeinsatzkommandos. Zwischen Düsseldorf, Osnabrück, Bielefeld und Mainz werden Verfolgungs- und Zugriffsspezialisten in Marsch gesetzt.

Doch egal wo die Beamten Rösner und Degowski auch erwarten, gerade dort tauchen die beiden auf ihrer planlosen Odyssee nicht auf. Postierte Nahkämpfer an Tankstellen in Hannover und Bielefeld warten vergebens. Auch die Raststätte Garbsen, von SEK-Männern umstellt, steuern die Gangster nicht an. Stattdessen betreten sie 90 Kilometer davor gegen 3.30 Uhr die völlig unbewachte Raststätte Grönegau, um eine längere Pause einzulegen und zu frühstücken.

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