Rösner wählt einen Tisch aus, von dem aus er sowohl das Fluchtauto als auch den Eingang einsehen kann. Beide Gangster halten die Waffen versteckt, aber schussbereit. Sie bestellen Kaffee und Brötchen und sind ganz versessen darauf, in der frisch gedruckten „Bild“-Zeitung erste Berichte über ihre Geiselnahme zu lesen. Berauscht von sich und der eigenen Tat, bemerken sie trotz aller Vorsicht und Skepsis nicht, wie sich ein Pärchen nur wenige Minuten nach ihnen an einen Tisch auf der anderen Seite eines Windfangs setzt.

Bei dem Mann und der Frau handelt es sich um ein ziviles Spitzelpärchen der Polizei, das die Lage aufklären und Informationen für einen möglichen Zugriff liefern soll. Um 4.01 Uhr ergibt sich die günstige Gelegenheit, die Geiselnahme mit einem Schlag zu beenden. Sechs volle Minuten suchen Rösner und Löblich die Toilette auf und lassen Degowski und die Geiseln allein am Tisch zurück. Doch die Einsatzkräfte der Polizei stehen zu diesem Zeitpunkt rund zwei Kilometer entfernt auf dem Standstreifen der Autobahn. Wertvolle Zeit verstreicht. Die Einsatzleitung liegt zu diesem Zeitpunkt immer noch im rund 150 Kilometer entfernten Gladbeck. Nachdem das MEK fälschlicherweise meldet, Geiseln und Gangster seien ständig auf Tuchfühlung, wird ein möglicher Zugriff verworfen.

Immer wieder lässt sich die Einsatzleitung die Sitzordnung von Tätern und Geiseln schildern. In einem polizeiinternen Vermerk („VS-Vertraulich, amtlich geheim“) heißt es später: „Im Einzelfall war der Leiter der Zugriffskräfte nicht entscheidungsfreudig genug.“

Keine vier Stunden später, um kurz vor 8 Uhr, legen Rösner und Degowski eine weitere Pause ein. Diesmal parkt der Wagen vor dem Café Dickhut, einer Konditorei in der Innenstadt von Hagen. Zwar ist die Befehlsgewalt für einen möglichen Zugriff inzwischen auf den Einsatzleiter Verfolgung übergegangen. Doch zwei Stunden zuvor, die Täter befinden sich noch in Dortmund, reißt der Kontakt zum Fluchtauto vollständig ab. Erst viel später postieren sich Einsatzkräfte der Polizei in sicherem Abstand zum Café – auch diesmal deutlich zu spät, obwohl Täter und Geiseln mehr als eineinhalb Stunden in aller Ruhe frühstücken.

Die Idee, dass es sich bei der so früh am Morgen aufgekreuzten Gruppe um die Geiselgangster-Truppe aus Gladbeck handeln könnte, kommt Cafébesitzer Werner Dickhut (46) nicht, obwohl er von der Geiselnahme gehört hat. Er wundert sich nur, wieso sich eine so gepflegte junge Dame „mit solchen komischen Typen“ abgibt. Ihre Waffen halten Rösner und Degowski auch diesmal versteckt. Sie bestellen „Frühstück für alle“. Als die Geisel A. nichts essen will, schlägt ihm Rösner die Speisekarte ins Gesicht und herrscht ihn an: „Du frisst auch was!“ Dickhut ist sprachlos. Er habe nur gedacht: „Was sind das denn für Gestalten?“

Obwohl drei Dutzend Nahkampfexperten eine Straßenkreuzung weiter in Stellung gegangen sind, entscheidet sich der Einsatzleiter auch diesmal gegen einen Zugriff – aus Sorge um das Leben der Geiseln. Das Café wird nicht einmal richtig observiert. Dickhut kann das bis heute nicht nachvollziehen. Die Stimmung der Gangster sei sorglos und gelöst gewesen. Der Konditormeister zeigt sich überzeugt: Es wäre für die Polizei ein Leichtes gewesen, unbemerkt durch den Hintereingang über die Küche ins Café zu gelangen.

Experten sind der Ansicht, in Hagen sei „eine außerordentlich günstige Gelegenheit, die Geiselnahme ohne Lebensgefahr für Geiseln oder Dritte zu beenden“, vertan worden.

+++ Der Bericht des Polizeilichen Untersuchungsauschusses NRW zum Café Dickhut

Doch noch immer hält die Polizei an ihrer passiven Taktik fest. Noch immer glauben die Beamten, Rösner und Degowski würden ihre Geiseln bald freilassen. Als die Gruppe das Café Dickhut verlässt und wieder ins Fluchtauto steigt, können die Lauscher der Polizei deutlich die neue Losung über die eingebauten Mikrofone mithören: „Nichts wie ab in Richtung Bremen.“ Marion Löblich stammt aus der Hansestadt. Dort kennt wenigstens sie sich aus.

 

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