Als Degowski sieht, dass die Zeit abgelaufen ist, wartet er noch ein wenig. Immer noch rührt sich nichts. Degowski steht unter Druck. Hatte er nicht eben noch vor laufender Kamera damit geprahlt, er habe kein Problem, jemanden zu töten, um die Forderungen durchzudrücken? Silke allerdings soll es auf keinen Fall sein.
Es ist dieser Bruchteil einer Sekunde, der über Leben und Tod entscheidet. Ebenjener winzige Wimpernschlag, in dem sich Emanuele an die nun vor ihm sitzende Tatjana wendet, sich in einer Rechtsdrehung mit leicht nach unten geneigtem Kopf seiner Schwester zuneigt. Vielleicht will er ihr etwas sagen oder sie einfach nur trösten. Es ist diese eine kurze Bewegung, die Degowski auf ihn aufmerksam macht. Er richtet die Waffe auf Emanuele – und schießt.
Geisel Ines Voitle: „Alle fingen an zu schreien“
Degowski ist völlig in Rage, offenbar auch entsetzt über seine eigene Tat. Er stürzt sich auf Meyer, packt den Fotografen am Hals, reißt ihn runter und schreit: „Du bist der Nächste, der stirbt! Dich hab ich noch nie leiden können! Dir trau ich nicht!“ Rösner schreit ihn an: „Bist du panne!“ Degowski ist völlig außer sich: „Ist doch egal, anders geht das nicht! Ich kann nicht verlieren!“
In dieser Sekunde klopft Marion Löblich an die Tür des Busses. Sie ahnt Schreckliches. Und sie soll recht behalten. Sie steigt in den Bus und sieht mit Rösner, wie Emanuele über die Lehne des Sitzes blutend nach hinten gesunken ist. Er schreit sie an: „Der Junge muss raus!“ Ines steht auf, fasst Emanuele an den Armen, und beginnt, ihn in den vorderen Teil des Busses Richtung Tür zu tragen. Silke und Tatjana fangen an, in Panik zu schreien. Degowski brüllt: „Wenn da jemand schreit, lege ich den um.“ Ein kleiner Junge kriecht verängstigt unter den Sitz seiner Mutter. Diese beginnt zu beten. Die Frau stammt aus Sri Lanka, hat in Deutschland Asyl beantragt und ist nur wenige Woche zuvor in ihrer Heimat nur knapp einem Verbrechen entkommen – einer Geiselnahme.
Löblich fragt, was mit dem Jungen passiert ist. Degowski wirkt auf sie völlig verändert, emotionslos, Angst einflößend. Eine Zeit lang schwingt er sich zum Chef der Bande auf. Rösner ist wie paralysiert.
Ines Voitle zerrt den Jungen vor die Tür und übergibt ihn an Meyer. Unbeschreibliche Szenen spielen sich ab. Journalisten stürzen sich mit Kameras auf das Kind. Einer rückt den blutenden Kopf des Jungen zurecht, um ihn besser filmen zu können.
Erst nach 20 Minuten treffen eine Ärztin und ein Rettungssanitäter aus dem 20 Kilometer entfernten Rotenburg in Grundbergsee ein. Bremens Kripo-Chef Möller hat vergessen, einen Notarztwagen mitzuführen. Als der eintrifft, ist der Bus schon unterwegs in Richtung Holland.
Um 1.15 Uhr stellen die Ärzte im Bremer Krankenhaus St. Jürgen den Tod Emanueles fest. Als ihn sein Vater aufsucht, muss er allein ans Bett seines aufgebahrten Sohnes treten. Kein Arzt, keine Krankenschwester, keine Psychologin steht ihm zur Seite. Und seine kleine Tochter? Die ist immer noch gefangen – von den Mördern ihres eigenen Bruders.
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