Nur mit Mühe kann ihn Löblich ermahnen, wieder ins Auto zu steigen. „Komm rein, du stehst da rum wie auf dem Präsentierteller.“ Rösner dreht um, startet den Motor und will gerade das Gaspedal durchdrücken, als ihn ein weißer Jeep überholt.

Im Geländewagen sitzt Holger Arndt (37), Pressefotograf des Bonner „Generalanzeigers“ aus dem benachbarten Siegburg. Dank seiner guten Ortskenntnisse hat er sich über Feldwege trotz Vollsperrung die Zufahrt zur Autobahn erschlichen und ist nun auf der Jagd nach den Fotos seines Lebens.

Rösner fährt noch einige Kilometer und nimmt dann den Fuß vom Gas. Der Fotograf erscheint ihm suspekt. Er fährt auf einer Bergkuppe unter einer Brücke hindurch und lässt den Wagen kurz vor Kilometerstein 37,5 auf dem Standstreifen ausrollen. Die Straße ist leicht abschüssig. Rechts neben der Fahrbahn begrenzt eine mit Büschen bewachsene Böschung ein dahinter liegendes freies Feld. Es ist heiß, staubig und still. Rösner hört das Zirpen der Grillen und sieht durch sein Fernglas den Fotografen, wie er einige Hundert Meter entfernt seinen Geländewagen quer auf der Autobahn parkt, auf den Fahrersitz steigt und seine Kamera zückt. Es ist 13.38 Uhr. Exakt auf diese Gelegenheit haben die Verfolger gewartet.

Auf das Kommando „Zugriff durchführen, Fahrzeug nicht mehr anfahren lassen“ fährt SEK-Chef Schürmann mit etwa 100 Stundenkilometern über die Bergkuppe direkt auf den silbergrauen BMW zu. Was dann geschieht, ist wieder einer dieser Zufälle, die das gesamte Geiseldrama durchziehen: Ohne in den Rückspiegel zu schauen und die Polizei kommen zu sehen, fährt Rösner plötzlich wieder los. Die SEK-Leute hatten den Sender mit der Zündunterbrechung in der Etappe vergessen.

Weit kommt er zwar nicht. Aber die wenigen Meter reichen aus, um dem Rammfahrzeug, einem taubenblauen Daimler, den idealen Aufprallwinkel zu nehmen. Statt die Fahrertür zu treffen, rast der Mercedes in die linke Hinterachse und bleibt mit gebrochenem Radlager fünf Meter vom Täterfahrzeug entfernt liegen. Die Aktion ist gründlich schiefgelaufen. Rösner hat nicht einen Kratzer abbekommen, Degowski eröffnet sofort das Feuer über den Kopf von Silke Bischoff hinweg.

Die Polizeiakte vom Zugriff

„Es hörte sich an wie Indianergeschrei“, beschreibt Ines Voitle die brüllenden Beamten. Doch die müssen sich zunächst selbst in Deckung bringen. Als die Beamten Blendgranaten zünden, vernebeln sie sich für entscheidende sechs Sekunden selbst das Schussfeld. Wild und unkontrolliert feuern die SEK-Männer um sich. Ein Kollege in einem Opel Senator schießt sechsmal durch die eigene dicke Windschutzscheibe. Die meisten Projektile werden später in der dicken Verschalung des Täter-BMW gefunden, aufgefangen von den Stahlstreben der Türverkleidung, den Motoren der elektrischen Fensterheber oder den dicken Geldbündeln im Kofferraum.

Exklusiv: Bislang unveröffentlichte Bilder vom Zugriff

Nach wenigen Sekunden hat Degowski die letzte Patrone seines Colts verschossen. Plötzlich sackt er wie tot zwischen Silke und Ines zusammen. Sein Kreislauf macht nicht mehr mit. „Bullen! Scheißbullen!“, schreit Rösner. Ines Voitle schreit auf. Der Splitter einer Polizeikugel dringt durch den Rücksitz ein und verletzt sie leicht am Rücken.

In diesem Augenblick packt Marion Löblich Silke Bischoff und zerrt ihren Oberkörper als Schutz gegen die Polizeikugeln nach vorn. Sie fordert Rösner auf, dem Mädchen die Pistole an den Kopf zu halten. Verzweifelt fleht Silke um ihr Leben. „Nein, nein, nein, nein, bitte nicht!“, schreit sie und ruft zu Ines: „Spring raus, geh raus, geh raus!“ Löblich faucht zurück, sie solle im Wagen bleiben. Doch Silkes Schreie werden immer lauter. Schließlich öffnet Ines Voitle die Wagentür und lässt sich in den Graben fallen.

Immer mehr Kugeln der Polizei durchsieben den Fluchtwagen. Am Ende werden die Beamten in drei Minuten 62 Schüsse abgefeuert haben, 37 davon treffen das Auto, schlagen in der Karosserie, im Heck, im Außenspiegel, im Kofferraum und in den Reifen ein. Eine Kugel trifft Rösner in der Leistengegend. Von dort bohrt sie sich bis ins untere rechte Becken des Gangsters. Rösner gibt auf. Durchs offene Fahrerfenster wirft er seinen Colt auf die Straße. Degowski kommt allmählich wieder zu sich. Mit dem Kopf ist er auf Silke Bischoffs Knie gerutscht. Er will „bei der Silke Zuckungen“ gesehen haben. Sekunden später fliegt eine zweite Waffe auf den Asphalt. Während einige der SEK-Männer die Gangster mit den Köpfen auf den Boden drücken und ihnen Handschellen anlegen, öffnet einer ihrer Kollegen die hintere linke Wagentür des BMW 735i. In diesem Moment gleitet ihm Silkes lebloser Körper entgegen. Eine Kugel aus Rösners Revolver hat das Mädchen getroffen.

Zwei Männer Schürmanns versuchen noch, Silke um 13.43 Uhr ins Leben zurückzuholen. Vergeblich. Wenig später stellt der Kölner Unfallchirurg Alex Lechleuthner fest, Silke Bischoff weise „mit dem Leben nicht vereinbare Körperverletzungen“ auf.

+++ Die Akte zum Tod Silke Bischoff

Um 14.08 Uhr wird Innenminister Schnoor über das Ergebnis des Einsatzes informiert: „Zugriff bei Kilometer 38 erfolgt. Täter festgenommen, eine Geisel verletzt, eine Geisel tot.“

 

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