Auch Rösner zeigt sich durch den anwesenden Reporter zunehmend genervt. Um ihn loszuwerden, legt er 25 Kilometer hinter Köln an der Raststätte Siegburg-West einen Zwischenstopp ein. Insgesamt acht Minuten dauert der Aufenthalt. Rösner lässt den Wagen volltanken und begleitet die Geiseln mit vorgehaltener Waffe zur Toilette. Zuvor verabschiedet er sich von Röbel: „Alles Gute. Mach den Bullen klar, dass sie uns in Ruhe lassen sollen.“

Doch die Polizei denkt gar nicht daran. Im Gegenteil: Stabschef Rolf Behrend hat SEK-Einsatzleiter Alfred Schürmann angewiesen, den Gangstern in einem Konvoi PS-starker und gepanzerter Limousinen dicht auf den Fersen zu bleiben. Als die BMW-, Mercedes- und Opel-Limousinen aber auf die Auffahrt der Tankstelle steuern, ist Rösner bereits wieder auf der Autobahn. Knapp haben die Verfolger den Zugriff verpasst. Zu lange haben die SEK-Männer vor Ort gezögert. Wieder einmal.

Schürmann lässt die Einsatzfahrzeuge noch einmal volltanken. Wenige Schritte entfernt gibt Röbel dem WDR-Reporter Ulrich Deppendorf ein Interview. Seine Knie zittern. Erst jetzt wird ihm völlig klar, in welcher Gefahr er sich befunden hat.

Die Autobahn Richtung Frankfurt ist seit einigen Minuten gesperrt. Drei Streifenwagen der Polizei blockieren vor Siegburg-West die beiden Fahrbahnen und den Standstreifen. Alles ist vorbereitet für den Zugriff.

Schürmann schickt seine Leute wieder auf die Autobahn. Mit Tempo 200 nehmen sie die Verfolgung auf. „Zugriff versuchen! Bei nächster Gelegenheit!“, lautet der Befehl an das Spezialeinsatzkommando über Funk. Wichtig sei ein freies Schussfeld, um möglichst keine Unbeteiligten zu gefährden.

Aus dem Düsseldorfer Innenministerium kommt Rückendeckung. Polizeiinspekteur Heinz Stork, oberster Schutzpolizist des Landes, ermuntert die Führungsstelle in Köln, „möglichst bald“ Schluss zu machen mit dem Treiben des Gangstertrios. Unbedingt, so die Ansage, müsse die Geiselnahme noch in NRW beendet werden. Zu den Kollegen im benachbarten Rheinland-Pfalz, die wenige Kilometer hinter der Landesgrenze die Einsatzführung hätten übernehmen müssen, hat die Kölner Polizei den Funkverkehr gekappt.

Mätzler spielt Vabanque. Will er Rösner noch vor der Landesgrenze stoppen, bleibt ihm nur ein äußerst gefährliches Manöver: das Rammen des Fluchtfahrzeugs, die Attacke während der Fahrt. SEK-Männer sprechen vom „Anlegen“, so als müsse man nur ein Tau um den BMW zurren.

Präzision und Technik sind gefragt. Das Rammfahrzeug ist im Frontbereich gepanzert. Nur so kann die nötige Wucht beim Aufprall gegen die Fahrertür erzeugt werden, um Rösner außer Gefecht zu setzen, Degowski und Löblich zu überrumpeln und den BMW in die ideale Stellung zu bugsieren. Vieles hängt davon ab, ob die Zündung des Fluchtfahrzeugs über Funk, wie vorgesehen, unterbrochen werden kann. Drei weitere Wagen sind nötig, um den Beamten ausreichend Deckung zu geben und sich nicht gegenseitig ins Schussfeld zu laufen. Die Positionen der einzelnen Fahrzeuge sind fast auf den Zentimeter genau festgelegt. Im Idealfall bilden alle vier Limousinen der Polizei eine L-Form.

 Der Schlusspunkt: Prozess und Urteil

Der Schlusspunkt: Prozess und Urteil

„Kein Mensch ist ein Monster“: Als Rudolf Esders, Vorsitzender der II. Großen Strafkammer am Landgericht Essen, nach 102 Verhandlungstagen am 22. März 1991 das Urteil gegen Rösner, Degowski und Löblich verkündet, ist er an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen. „Während des Prozesses bin ich ein richtiges Ekelpaket geworden.“

 Das Polizeiversagen – die großen Fragen

Das Polizeiversagen – die großen Fragen

Auch nach 30 Jahren sind die Bilder von Gladbeck lebendig, die Narben nicht verheilt. Nicht bei den überlebenden Geiseln, nicht bei den Angehörigen der Opfer – aber auch nicht bei der Polizei. Gerade sie stand und steht am Pranger. Viele Beamte machen sich Vorwürfe, werden von Selbstzweifeln und Gewissensbissen geplagt. An den bohrenden Fragen hat sich nichts geändert.

Schürmann ist nervös. Zwar haben er und seine Männer diesen gefährlichen Einsatz schon mehrfach geübt, doch noch nie im Ernstfall erprobt. Und so warnt der Hauptkommissar fast flehentlich vor unkalkulierbaren Risiken. Wenn etwas nicht wie geplant klappe, könnten die Geiseln „getötet werden“. Schürmann „remonstriert“, wie es im Beamtendeutsch heißt. Er macht seine Bedenken über Funk aktenkundig, um später nicht die alleinige Verantwortung zu tragen, falls etwas schiefläuft. Schürmanns Männer sind schon seit dem Vorabend im Einsatz. Zwar haben sie sich in Holland am Morgen ausruhen können, als ihre niederländischen Kollegen die Leitung übernahmen. Doch die ständige Anspannung und das permanente Warten haben die Spezialkräfte mürbe gemacht. Um 13.15 Uhr regt das Innenministerium in Düsseldorf an, die SEK-Truppe von frischen Kräften der GSG 9 ablösen zu lassen. Unweit von Bonn bei St. Augustin befinden sich 24 Beamte der Elitetruppe in Alarmbereitschaft.

Schürmann weiß von alldem nichts. Mit wenigen Hundert Metern Abstand fährt Schürmanns Stoßtrupp auf der leeren Autobahn Rösner und Degowski hinterher. Kurioserweise fühlen sich die Gangster ausgerechnet jetzt zum ersten Mal seit Langem nicht verfolgt und einigermaßen sicher. Sie würden die Mädchen schon bald freilassen, „schon hinter der nächsten Ausfahrt“, verspricht Degowski. Gelöste Stimmung macht sich breit. Bierdosen kreisen. Ihr Herz habe vor Vorfreude einen Hüpfer gemacht, wird Ines Voitle später sagen. Bei Kilometer 30 hält Rösner übermütig am Straßenrand, um seinen Blaumann auszuziehen.

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